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Donnerstag, 2. Oktober 2008

Liebe Chefredaktion von DIE ZEIT ...

Ein kleiner Versuch, das Thema Down-Syndrom an die Öffentlichkeit zu tragen, ein Leserbrief an DIE ZEIT:

Liebe Chefredaktion von DIE ZEIT, lieber Giovanni di Lorenzo,

um es direkt zu sagen, ich bin einfach schockiert! Über die doch recht einseitige Berichterstattung von DIE ZEIT über Menschen mit Down-Syndrom und anderen Behinderungen. Als Mutter einer 10-monate-alten Tochter mit Down-Syndrom lese ich die Artikel natürlich jetzt ganz anders, viel kritischer, würde mir natürlich einseitig positive Berichterstattung wünschen (geht nicht, klar). Aber vieles von dem, was Sie in ihrer Zeitschrift berichten, entspricht einfach nicht (mehr) der Realität.

Die Reportage ihres Autors Henning Sußebach, der als Zivi im Heim für geistig-behinderte Kinder gearbeitet hat und seine ehemaligen Zöglinge nach Jahren wieder besucht, ist zutiefst traurig, zumindest hat sie mich, als ich ihn kurz nach der Entbindung las, in tiefste Depression gestürzt. Der 'nicht betroffene' Leser ist so erleichtert wie der Autor, dass er am Ende wieder in seine 'normale' Welt zurückkehren kann und dankbar, dass er/sie nicht mit so einer Behinderung getroffen wurde, die uns ohne jede Vorstellung von Zeit, Kausalität, Politik und Gesellschaft (für ZEITleser essentiell) in einer glücklichen Dummheitsblase dahin vegetieren lässt. Kein Wunder, dass die Eltern von Thomas ihn schliesslich doch in's Heim gaben und wahrscheinlich auch besser so, denkt der Leser. Und falls es zufällig eine schwangere Frau ist, fragt sie bei der Feindiagnostik nochmal nach, ob mit dem Herzchen auch wirklich alles in Ordnung ist. Nur manchmal nachts, da wacht sie schweissgebadet auf: 'Du, ich hab geträumt, ich hätte so'n Mongölchen geboren'. Nur ein Alptraum...

Oder der Artikel 'Besser tot als lebend' aus der Zeit Nr.12 diesen Jahres, eine schauerliche Fürsprache für die Abtreibung schwerst-behinderter Kinder. Kommt zwar differenziert rüber, erwähnt ja auch, dass es Menschen gibt, die solche Kinder trotz allem adoptieren und weitestgehend glücklich sind. Aber warum berichten Sie so detailliert über die Entscheidung für den Tod und berichten nicht ähnlich differenziert aus einer Familie, die sich für das Leben entschieden hat, mit allen positiven und negativen Folgen? Wollen Sie Eltern, die die kostengünstigere Entscheidung für den Tod treffen, von ihrem schlechten Gewissen befreien?

Das Leben mit einer Behinderung, im Speziellen mit Down-Syndrom, ist bei weitem nicht so dramatisch und furchtbar wie das Klischee, das durch die Köpfe unserer Gesellschaft und durch die Artikel ihrer Zeitung geistert. Wussten sie, dass es Menschen mit Down-Syndrom gibt, die fantastische Bilder malen, die Filme drehen, die mit einer Rockband auf Tournee gehen, die sogar einen Hochschulabschluss haben? Die meisten gehen normal zur Schule (zumindestens in den ersten Jahren), lernen lesen, schreiben und rechnen, schwimmen und fahradfahren. Manche laufen sogar einen Marathon, spielen Theater, tanzen Ballett. Und selbst wenn nicht...

Das Leben mit einem Kind mit Down-Syndrom ist eine solche Bereicherung, ich persönlich würde es Ihnen von Herzen wünschen, dieses Geschenk zu bekommen. Es ist eine Einladung zu wachsen, das Leben von einer ganz anderen Seite zu sehen, die Langsamkeit für sich zu entdecken. Eine Einladung, das Wort Liebe ganz anders zu begreifen, plötzlich hinter die gesellschaftlichen Fassaden zu schauen, und das Lachen nie zu vergessen. Die beiden Bücher von Conny Wenk, 'Aussergewöhnlich' und 'Aussergewöhnlich: Väterglück' sind ein wunderschönes Zeugnis davon. Wenn sie eine Vorstellung von der Schönheit und dem Reichtum im Leben mit einem Kind mit Down-Syndrom haben wollen, schauen sie da rein. Oder auch einfach nur in Conny's Blog (http://connywenk.blogspot.com). Wenn sie diese strahlenden Augen sehen, bei Eltern und Kindern, dann wissen sie, das kann nicht's Schlechtes sein. Oder schauen sie einfach mal auf unseren eigenen Blog (http://loliswelt.blogspot.com) oder auf all die anderen Blogs, die dort verlinkt sind. Viele viele glückliche und positive Berichte, auch viele traurige - weil das Kind den gesellschaftlich erwünschten Meilenstein noch nicht geschafft hat, oder weil es krank oder gar gestorben ist. Was für die meisten Eltern viel tragischer ist als die Diagnose Down-Syndrom.

Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir aufräumen mit den alten Klischees. Dass wir den Menschen zeigen, dass das Leben mehr ist als das Funktionieren in einer leistungsorientierten Wissensgesellschaft. Dass der Zusammenhalt jeder Familie und jeder freiheitlichen Gesellschaft getragen wird von dem Fundament der Liebe und des gegenseitigen Respektes - für die Eigenarten und Besonderheiten jedes Einzelnen. Das das Leben mit einem Menschen, der abweicht von der Norm, uns mehr lehren kann über Toleranz und Nächstenliebe als jeder theoretische Religions- oder Ethikunterricht in der Schule. Dass es auch die Ausgrenzung und Abwertung von Personen mit geistigen und körperlichen Behinderungen (Besonderheiten) ist, die zu einer Nivellierung und Anpassung der Menschen führt, die Ihr Autor Jens Jessen in seiner Polemik 'Die traurigen Streber' so bejammert hat.

Zeigen Sie den Mut und setzen Sie mit DIE ZEIT ein Zeichen, dass es auch anders geht. Das heisst, drucken Sie nicht nur ein paar spärliche Leserbriefe ab von betroffenen Eltern. Sondern schreiben Sie einen grossen Artikel über die erstaunlichen Fähigkeiten von Menschen mit Down-Syndrom; über ihren Kampf um die gesellschaftliche Akzeptanz und Integration als Mitbürger, mit Rechten und Pflichten; über die unglaubliche Bereicherung der Leben so vieler Menschen durch die Lernaufgabe, ein behindertes Kind gross zu ziehen; auch über die Probleme, die Grenzen, an die man dabei stösst. Sie wissen gar nicht, für wieviele Menschen sie ein Tor aufstossen würden, ihnen eine Stimme geben würden. Und wie wievielen schwangeren Frauen sie das bange Warten auf ihr (hoffentlich nicht behindertes) Kind erleichtern würden. Unsere Kinder sind ein Geschenk für's Leben, nicht eine Ware, die man nach Belieben reklamieren und wieder zurückgeben kann, wenn die Qualität nicht stimmt. Diese Einstellung herrscht leider vor in unser Gesellschaft.

Sie haben die Möglichkeit, einen Denkanstoss in eine andere Richtung zu geben. Ganz konkret. Vielleicht nicht gleich ein Bild von einem lachenden Kind mit Down-Syndrom auf der ersten Seite mit dem Titel 'Down-Syndrom, na und?' (Naja, warum eigentlich nicht?) Aber vielleicht ein Dossier mit Erfahrungsberichten, Interviews, Berichten über erfolgreiche Integrationsprojekte an Schulen? Oder die Vorstellung des Buches 'Aussergewöhnlich' von Conny Wenk? Oder eine Fotoserie im ZEITmagazin mit lachenden Kindern mit Down-Syndrom?

Es liegt in ihrer Hand. Ich bin gespannt.

Viele Grüße,
Amelie Mahlstedt

ps: hier noch ein paar schöne links:
http://www.theater-rambazamba.org
http://www.ohrenkuss.de/
http://www.ds-infocenter.de/

4 Kommentare:

  1. Wow Amelie, ich bin sprachlos, und das nicht nur vor Müdigkeit (aber auch) Das hast du soooooo toll geschrieben. Bist du Journalistin? Hab Dank für deinen Mut, für deine Klarheit, für deine Ehrlichkeit. Ich wünsche den Herren Zeit-Macher dasselbe!

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  2. Respekt. Dabke für den Brief. ;-)
    Danke auch für Deine liebe mail, die mich sehr berührt hat.

    Lieben Gruß
    Claudia

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  3. Super Artikel! Bin bestimmt so gespannt wie du, was DIE ZEIT daraus macht! LG, Julia & Jungs

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