Ich bin selber nicht behindert. Noch nichtmal seh-behindert. Ich weiß nicht, wie sich das anfühlt. Wie es ist, diskriminiert zu werden, komisch angeschaut zu werden. Immer wieder unterschätzt zu werden, auf diese (kleine) Abweichung reduziert zu werden. Sofort in einer Schublade zu landen. Ich kann eigentlich nicht mitreden. Und doch ... will ich Euch dieses Ereignis erzählen, was mir gestern passiert ist. Mich aufgewühlt hat und irritiert.
Wir waren abends noch einen Wein trinken. Maxim und ich. In einer netten Weinbar in der Leipziger Innenstadt. Mit dem Bauch voller Tapas und dem Kopf voll spanischem Weißwein. Kurz: bestens gelaunt. Als sich ein äusserst sympathischer Herr im Rollstuhl zu uns an den Tisch gesellte. Was wirklich nicht üblich ist, einfach seine Tischnachbarn anzusprechen. Er tat es, und mit einer solchen Offenheit und Herzlichkeit, dass ich mich sofort angesprochen fühlte. Ein witziges und absolut unkonventionelles Gespräch entspann sich, über Leipzig, Theater und Schauspiel (er ist u.a. Schauspieler), Energien zwischen Menschen, Anziehung und derlei Dinge. Dazu das schelmische Grinsen des Herren, seine prägnante Unterlippe und der Schalk in seinen Augen. Ein Double von Petrucciani hätte er sein können, dem französischen Jazzpianisten, ganz ähnlich vom Aussehen. Denn auch er hat die Glasknochenkrankheit und ist kleinwüchsig.
Als ich ihn näher darauf ansprach, wurde der Ton etwas vorwurfsvoll und aggressiv, den das Gespräch vorher gar nicht gehabt hatte. Hatte ich etwas falsches gesagt, irgendwie komisch geguckt? 'Du schaust mich so kritisch an', sagte er. Vielleicht weil ich seine Erzählung spannend fand? Nicht einen Moment hatte ich an sein Aussehen gedacht, an seine kurzen Arme, an seinen Rollstuhl. Sah nur den Schalk in den Augen, hörte den Witz in seiner Stimme.
Plötzlich begann er, sich zu rechtfertigen. 'Ja, er sei eben behindert. Damit kämen viele nicht zurecht. Da wussten die Leuten nicht, wie sie sich verhalten sollten. (...) Eine Krankheit, nein, die habe er nicht. Die könnte ja geheilt werden. Aber seine Knochen, einmal gebrochen, immer gebrochen. Das war keine Krankheit. Und kleinwüchsig, was das sein solle? Die anderen, seien die etwa alle grosswüchsig? Könnte man ja auch sagen... '
Und das Gespräch glitt ab. In einen Rechtfertigungsmonolog, dem ich irgendwann gar nichts mehr entgegen setzen wollte. Hatte ich doch das Gefühl, egal was ich sagen würde, nur in noch größere Fettnapfen zu springen. Für den Vergleich mit Lola hätte er mir wahrscheinlich die Augen ausgestochen, da kommt man dann hin, wenn man den Terminus behindert einführt...
Und der sympathische, weltoffene, unkonventionelle Herren, dessen Äußeres mir nur positiv aufgefallen war, wurde plötzlich zum Märtyrer, zum Behinderten, zum 'Krüppel', wie er sich selber plötzlich anfing zu bezeichnen. Abgestossen von seinen Selbstbezichtigungen (die er den anderen zum Vorwurf machte) rutschten wir wieder auseinander und verließen kurz drauf den gemeinsamen Tisch.
Wie unglaublich stark doch unser Selbstbild auch das Bild der anderen von uns prägt, ist mir in diesem Moment deutlich geworden. Vielleicht wollte er das in mir provozieren? Ich weiß es nicht. Jedenfalls bis zu dem Punkt, wo er selber seine körperliche Besonderheit nicht weiter erwähnt hatte als etwas, das ihn definiert oder gar limitiert, existierte diese Begrenzung auch für mich nicht. Gar nicht. Erst als er anfing, sich dagegen zu wehren.
Seltsam, das Ganze mal aus der anderen Perspektive zu erleben. Wie Unbeteiligte sich fühlen, wenn man als Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom plötzlich anfängt, sich für sein Kind zu rechtfertigen. Dass Down-Syndrom keine Krankheit ist. Was besonders daran ist und das Kind deswegen wenig spricht. Dass es sich entwickeln wird, aber eben in seinem Tempo ... (undsoweiter).
Wie irritierend muss es für Aussenstehende sein, dass ich als Mutter mich plötzlich für mein Kind entschuldige. Dass es noch nicht bis zehn zählen kann, noch nicht sicher auf einem Bein stehen. Wer würde das sonst bei einem Sechsjährigen. Wie irritierend muss das für Menschen sein, dass eine Mutter nicht einfach nur liebevoll auf ihr Kind schaut und all das sieht, was es kann, wie es lacht, wie es strahlt. Wie es ihr Herz wärmt .... oder auch anheizt, wenn es mal wieder nur Bockmist verzapft. Wie alle Kinder.
Lola ist Lola. Und ich liebe sie! Und ich könnte schreien, wenn sie auch meine fünfte Aufforderung noch überhört, als wäre sie taubstumm. Aber behindert, ist sie nicht! Sie wird höchstens behindert! Von meinen Gedanken über sie, von den Gedanken der anderen über sie oder von ihren eigenen Gedanken über sich selbst.
Und ich will alles daran setzen, dass die limitierenden Gedanken der Gesellschaft über sie niemals eindringen in ihren Kern, an ihrem Selbstwert rütteln und sie in die Verteidigung zwingen (ohne dass sie angegriffen wurde). Sondern dass sie vor allem ihre Möglichkeiten sieht, ihre Neugier, ihren Wunsch zu wachsen, sich zu entwickeln, unabhängig und selbständig zu werden. Ihren Weg zu gehen. Mit meiner Unterstützung und der von vielen anderen Menschen, die an sie glauben. Auf dass sie selber an sich glaubt! Und zur Not auch dafür kämpft, ihren Weg gehen zu dürfen. Aber nicht als Vorwurf an die Gesellschaft, sondern aus der Kraft heraus und mit dem Willen, sich selbst zu behaupten. Als Mensch und Individuum.
Der Terminus 'behindert' soll deswegen nicht in Abrede gestellt werden. Denn als Label für Unterstützungsbedarf (auf dem Ausweis, bei der Pflegestufe, bei der Steuer) ist er unabdinglich. Aber als Etikett, um sich dadurch reell oder gedanklich zu begrenzen oder begrenzen zu lassen, ein No-Go!
Grandios geschrieben. Vielen Dank für diesen genialen Denkanstoss!
AntwortenLöschenLiebste Grüße
Ich habe schon ganz früh aufgehört zu erklären oder etwas zu entschuldigen, das hat dann allerdings oft zur Folge, das nach einem netten Gespräch mit Fremden die frage zwischen meinem Mann und mir aufkommt: "Haben sie ES gemerkt?" Als ob das wicbhtig wäre, aber doch eigentlich ein guter Gedanke zu denken jemand könne es Jolina nicht ansehen, hihi, schaut ihr das down syndrom doch aus dem Gesicht, doch für uns ist es so normal, das wir wirklich manchmal glauben, andere können es übersehen, wir sind schon putzig - aber eigen tlich auf einem guten Weg.
AntwortenLöschenLG
Martina
Sehr schön beschrieben. Ich habe oft mit blinden Menschen zu tun und auch mir ist es oft passiert, das ich sie einfach als Mensch gesehen habe und sie sich selbst auf ihr Handycap reduziert haben. Das beste Beispiel mit meiner auch blinden Freundin. Sie war lebensfroh, witzig, unternehmungslustig, schlau, vielseitig interessiert. Auf einer gemeinsamen Wanderung fragt sie mich plötzlich, warum ich mir das eigentlich antue. Ich wußte erst garnicht was sie meint. Fragte sie dann aber zurück, ob sie denn nur aus den (nichtfunktionierenden) Augen bestehen würde. Wir haben später oft drüber lachen können. Ein anderes Beispiel, das angeguckt werden. Sie saß später, immer noch blind, halbseitig gelähmt im Rollstuhl, wir waren in einem Restaurant, ich mußte sie füttern und zwei ältere Frauen beobachteten uns unabläßig. Eine Weile kann ich das gut ignorieren, dann werde auch ich nervös. Wir zahlten, ich zog sie an, brachte die Fußstützen am Rollstuhl an, eine Decke über die Beine... die Frauen guckten. Obwohl mir ein Spruch auf der Zunge lag, gingen wir Richtung Tür. Im Weglaufen hörte ich folgende Unterhaltung: "Wie lieb sie das macht", "Ja, so möchte ich auch mal versorgt werden" Gucken ist nicht immer böse gemeint und auch ich gucke manchmal wenn ein Rollstuhl an mir vorbeigeschoben wird, ein Blinder an mir vorbei läuft oder vorbei geführt wird. Aber einfach um zu sehen, wie macht der andere das, kann ich was lernen. Oder mit dem Gedanken: Toll, wie die das meistern... oder, ja, die wagen sich auch raus..trotzdem... aber ja, die sogenannten Behinderten sind oft sehr sensibel, behindern sich dadurch manchmal selbst. Ob es immer aus schlechter Erfahrung heraus ist, darüber bin ich mir nicht sicher. Ich verfolge euren Weg schon lange und finde es einfach toll und hab mich auch schon dabei ertappt mal zu gucken, wenn ein Down-Syndrom-Kind in der Nähe ist. Nicht aus Mitleid, nicht aus Neugier, so wie ich auf jedes andere Kind auch gucken würde. Macht weiter so, Lola wird ihren Weg gehen und eines Tages wird es die Gesellschaft auch begreifen, daß nicht Höchstleistungen das LEben ausmachen.
AntwortenLöschenLiebe Grüße nach Leipzig