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Freitag, 12. Dezember 2014

'Beliebtestes behindertes Kind'...

Noch letzte Woche habe ich wieder mal gehadert. Mit Lolas Schule. Es ist eine Schule im Aufbau, vieles muss sich erst einspielen. Ich weiß. Aber als eine Mitschülerin von Lola, die wir morgens manchmal mit zur Schule mitnehmen, vom turbulenten Unterrichtsablauf erzählte und 'dass die behinderten Kinder im hinteren Teil der Klasse gar keine Ruhe zum Lernen hätten, war ich doch recht irritiert.

Hätte ich sie doch in die Lindenhofschule geschickt, kam mir in den Kopf geschossen. Da hätte sie einen guten integrativen Förderunterricht gehabt, in Kooperation mit einer staatlichen Grundschule. Da sitzen alle Schüler ordentlich und ruhig am Platz. Da ist guter Unterricht möglich. Da würde sie mithilfe von Intraact-Plus schon lesen und schreiben können. Oder hätte bestimmt gute Grundlagen, so wissbegierig wie sie ist und so konzentriert wie sie arbeiten kann, wenn die Atmosphäre stimmt. Aber nein, ich habe mich dagegen entschieden...

Und dann noch dieser Begriff 'behinderte Kinder'. Na klar, ich sage es ja selbst. Na klar, ist sie eines der 5 'behinderten Kinder', 'Inklusionskinder', 'I-Kinder'...  Egal, was man sagt. Die Tatsache bleibt. 5 Kinder haben nachgewiesenen Förderbedarf. Jeder Erwachsene weiß das. Die Lehrer. Die Eltern. Und die Kinder eben auch. Aber das so benannt zu wissen, hat mich doch irritiert.

Muss man das so abgrenzen? Woher hat das Mädchen das? Reden die Kinder in der Schule so kategorisierend über die Kinder? Wie kann man das verändern? Muss und sollte man das mit den Kindern thematisieren?

Am nächsten Morgen im Auto beginnt das Mädchen wieder ein Gespräch über das Thema 'Behinderung'. Es lässt sie nicht los, das Thema.

- 'Was an Lola ist denn 'behindert' für dich?', frage ich sie.

- 'Na alles. Sie ist eben behindert'.

- 'Was genau denn? Woran merkst du, dass sie behindert ist, und die anderen nicht.'

- 'Sie kann nicht so sprechen wie die anderen. Sie ist einfach - anders. Behindert eben.'

- 'Ja, aber jeder Mensch ist doch ein bisschen anders als der andere. Jeder kann bestimmte Sachen gut. Und andere Sachen nicht so gut. Jeder ist in bestimmten Dingen ein bisschen 'behindert', sage ich.

Ich habe das Gefühl, ihrem doch recht diffusen Begriff von Behinderung etwas mehr Inhalt zu geben. Etwas dagegen zu setzen.

- 'Ja, das stimmt', sagt sie.

- 'Lola hat nämlich Down-Syndrom. Und das macht, dass sie große Probleme beim Sprechen hat. Auch wenn sie sehr gut versteht. Aber weißt Du, Lola kann sehr gut fühlen, wie es anderen Menschen geht. Viel stärker als andere. Das kann sie besonders gut.'

- 'Oh ja, das stimmt. Neulich in der Klasse, da hat sich ein Mädchen wehgetan und geweint. Da hat Lola sie gestreichelt und getröstet.'

-  'Genau. Und ich finde, wenn es bei Euch in der Klasse Jungs gibt, die den Unterricht stören und laut schreiend als Ritter durch die Klasse rennen, dann finde ich das 'behindert'. Weil es die anderen stört. Obwohl das Jungs sind, die nennt gar keiner 'behindert'. Aber ihr Verhalten, das ist doof, weil es anderen schadet. Das kann ich dann auch 'behindert' nennen.

- 'Oh ja. In der Klasse von meiner Schwester, da ist auch ein Junge mit Down-Syndrom. Den haben die Jungs am Anfang ganz viel geärgert und auch mal gehauen. Da hat er dann auch angefangen zu schlagen. Das hat er sich abgeguckt.'

- 'Das ist genauso 'behindert' von den Jungs. Das schadet dem Jungen und tut ihm weh. Das ist sehr sehr verletzend. Es ist wichtig, dass man anderen sagt, was einen stört. Jeder ist anders, und man muss nicht jeden mögen. Aber man darf ihn niemals schlagen. Man sollte jeden so nehmen, wie er ist. Jeder ist besonders auf seine Art.'

- 'Ja, das finde ich auch total doof von den Jungs'.

Und an dem Punkt waren wir etwa bei der Schule angekommen. Lola saß die ganze Zeit neben mir bei dem Gespräch. Auf dem Beifahrersitz. Ich schaute sie entschuldigend an. Sie hatte den Blick gesenkt. Ich weiß, ich darf nicht so vor dir reden, es tut mir leid. Schoß es mir durch den Kopf. Aber diese Fahrten sind die seltene Möglichkeit, mit anderen Kindern zu reden. Und dieses Mädchen wollte es wissen. Und in der Schule scheint es ja auch Thema zu sein...

So entließ ich Lola mit ihrer Mitschülerin in die Schule. Mit seltsam gemischten Gefühlen.

Dann war Lola eine gute Woche bei Ricardo und ich hab sie nicht gesehen. Erst gestern habe ich sie wieder abgeholt. Als ich in den Hort kam, war sie im intensiven Spiel mit eben dieser Mitschülerin und wollte gar nicht mitkommen, auch wenn sich sich natürlich freute, mich zu sehen. Auch das Mädchen meinte: 'Ach nein, nicht jetzt schon! Wie wollen doch noch spielen! Kannst du mich nicht mitnehmen?'

Und so kam es, dass wir das Mädchen heute mit zu uns genommen haben. Die beiden den Nachmittag hier verbracht haben und für morgen schon wieder verabredet sind! Und das Mädchen das Wort 'Behinderung' kein einziges Mal mehr verwendet hat. Nur einmal sagte sie, dass alle Menschen ja ein bisschen 'behindert' seien...

Beim Abholen in der Schule schon fiel mir auf, dass Lola extrem entspannt und gut gelaunt war. Und von ganz vielen Kindern verabschiedet wurde, umarmt sogar von einigen Jungs. Zwar auch mit ein paar frechen Worten geneckt, woraufhin Lola aber nur lachte und davon rannte, von den liebevoll feixenden Jungs verfolgt.

Am Telefon erzählte ich der Mutter des Mädchens davon. Ja, ihre Tochter habe ihr erzählt, dass Lola 'das beliebteste behinderte Kind der ganzen Schule sei.'

3 Kommentare:

  1. Das ist eine total interessante Geschichte.
    Ich weiß auch immer nicht, wie ich reagieren soll wenn ich "Behinderte" (ich sags jetzt einfach mal so) sehe.
    Ich wohne bei dir um die Ecke und es gibt hier noch einen kleinen Jungen (so 8/9 Jahre alt) mit DownSyndrom, der auf dem Spielplatz gemieden wird und wo ich mich an der Haltestelle auch immer noch traue hinzuschauen, eben weil ich irgendwann mal gelernt habe, dass "Behinderte" anders sind, man nix böses darüber sagt, aber wie man damit umgeht, wurde mir nie vermittelt.
    Ich glaube da hat das Mädchen aus Lolas Klasse nun schon einen enormen Vorsprung, weil ihr Bild auf Behinderung verändert wurde.
    Naja, neulich fing mein 17 Monate Sohn an mit dem Jungen mit einem Chromosom mehr, auf dem Spielplatz zu spielen.
    Seine Mutter warnte meinen Mann sofort, dass ihr Kind etwas grober sei. Sie kam dann mit meinem Mann ins Gespräch und erzählte, dass sie immer gemieden werden, schräg angeschaut, etc, und wie sie das stört. Und sie sagte auch, dass sie um die Andersartigkeit ihres Kindes weiß und auch gerne dazu was sagen kann, wenn man nur fragt, was sie viel besser findet, als ignorieren. Sie findet auch das beschämte Weggucken viel schlimmer als vielleicht interessiertes Starren. Das hat uns nachdenklich werden lassen und nun "trauen" wir uns, wenn wir den Jungen sehen, ihn einfach genau so anzugucken, wie das Kind mit dem schönen Haarschnitt, das niedliche Baby, oder das Mädchen, was eine besondere Jacke trägt...

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  2. liebe Amelie,
    ich darf aktuell I-Hilfe machen von E. einem Jungen mit Down Syndrom in einer zweiten Klasse an einer Walddorfschule. Er ist seit diesem August in dieser Klasse, also noch recht neu. Ich begleite E. mit in Wald. E. hat letztes Mal sein Schnitzmesser ausgepackt und ein junge seiner Klasse stand da mit grosse Augen. Als E. sich davon getrollt hat mit seinem Messer, sich nach einer Kaltterpartie mit Messer in Schuzhulle im Mund amit dmait der freie Hände fürs Klettern hatte, ganz selbständig sich zu seinen Kollegen in die Höhle zum Schnitzen gesetzt hat sprach mit sein Kollege an. Ob der E. denn keine Angst hatte, ob er sich niciht schneiden wurde beim Schnitzen? Er kenne keine andere Behinderten die schnitzen können. Er selber hatte solche Angst vor Messer und so Zeugs. Ja, habe ich ihm geantwortet, der E. der könne sehr gut mit seinem Messer umgehen und er würde oft schnitzen. Und ich wurde viele behinderte Menschen kennen die schnitzen wurden, ja sogar mit grossen Maschienen holzen wurden, all unser Feuerholz wurde von Menschen mit verschiedenen Behinderungen im Wald geschlagen und zu uns Gefahren. Auch ich sei behindert, sei Taub ohne meine Implantate und wurde sehr gerne Schnitzen. Da musste der Junge weinen. Er sei eben Angstbehindert und er wurde sich nicht schnitten getrauen. Ich riet ihm doch bei E. zuschauen zu gehen wie er dieser Schnitze ohne sich zu verletzten. Und wenn er möge könne er dann mal ein Messer mit nehmen und ich wurde ihm lernen einen Löffel zu schnitzen. Der Junge trocknete mit seiner schmutziger Hand seine Tränen und Kletterte runter, fragte E. wie Schnitzten ging. E. sprich nicht aber er zeigte dem Jungen ganz genau wie er schnitzt. Der junge bleib auf großem Abstand zum Messer. Später zogen die beiden gemeinsam weiter. Noch viel später tauschten sie ein Teil ihres Znünis. Behindert- welches Wort hatte er sonst brauchen sollen, der 8 jährige? Ich selber bezeichne mit als Taube (nun mit CI Hörend wenn ich sie Aussenkomponenten denn tragen mag) behindert. Ich bin gerne so wie ich bin und ich hadere auch keine Minute damit meinem Umfeld durch meine Behinderung vor die Herausforderung zu stellen Geduld auf zu bringen und deutlich zu sprechen.



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  3. Danke, für Eure Geschichten!

    Liebe Margarete Audrey, sag mal bescheid, wenn ihr wieder auf dem Spielplatz seid. Dann treffen wir uns mal... Dann können die Kleinen mal zusammen spielen und wir quatschen....

    Und liebe Maya, danke für diese wunderbare Geschichte! Großartig! Warum schreibst du nicht mehr solche Geschichten in deinem Blog?

    Ganz herzliche Grüße an Euch beide,
    Amelie

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