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Donnerstag, 26. Oktober 2023

Nur grüne Punkte

In den letzten Wochen hat sich Lola in vielen Bereichen super entwickelt. Wir konnten richtig lange Wanderungen mit ihr unternehmen, im Bayerischen Wald, dann mit ihrem Papa Ricardo sogar in den Dolomiten, hoch in den schroffen Felsen. Zuletzt im Thüringer Wald, ein Stück des Rennsteigs. Voller Freude, erzählend, die Landschaft bewundernd, lief sie flott voran, ohne zu jammern oder hinterher zu hängen, wie vor Jahren noch. 

Auch beim Geigen ist sie begeistert dabei. Spielt mittlerweile das 3. Menuett von Bach aus ihrem Suzukibuch, übt fleissig alleine zuhause und hatte gestern wieder einen kleinen Solo-Auftritt in ihrer Geigenschule. Wo sie fehlerfrei und mit schönstem Klang zwei Stücke vorgespielt hat. Strahlend, in ihrem glitzernden roten Abendkleid. Sogar beim inklusiven Ensemble der Karl-Schubert-Schule spielt sie mittlerweile mit, mit dem sie vor ein paar Wochen einen Auftritt beim Gartencafe des inklusiven Nachbarschaftsgartens hatten.

Auch beim Lesen hat sie riesige Fortschritte gemacht. Liest sinnverstehend, beantwortet Fragen zu kleinen Texten, sitzt nachmittags oder abends lange im Bett und liest alleine Bücher. Laut noch, und ja, Erstlesebücher, aber immer fehlerfreier und ganz alleine. Manchmal bis zu einer Stunde höre ich sie leise murmeln, oder sogar lachen über den Inhalt. Den sie mir mir später erzählt. 

Aber - in der Schule hat sie in den letzten Monaten immer öfter den Unterricht verweigert. Legte sich spätestens ab der dritten Fachstunde einfach auf den Boden, und war nicht mehr zu bewegen, den Unterrichtsraum zu betreten oder sich von der Stelle zu bewegen. Dutzende von Lehrkräften, Assistenten, Erzieher aus dem Schulclub haben sich mittlerweile schon an ihr die Zähne ausgebissen. Sie ließ sich nicht bewegen. Höchstens die Ansage, dass sie mich gleich anrufen, so dass ich sie abhole, brachte sie in Bewegung. Denn ich war jedesmal stinkesauer, wenn ich davon erfuhr. Und entzog ihr ihre geliebte Zeit für Handy und Tablet am Nachmittag, was sie wirklich ärgerte.

Und am Anfang zog meine 'Drohnung' bzw. meine Konsequenz des Handyentzugs zuhause auch noch, und sie machte (stellenweise) wieder besser in der Schule mit bzw. betrat die Räume. Aber leider erfuhr ich nicht jedesmal von ihrer Verweigerung - von ihr nicht, und von den Pädagogen auch nicht. Oder erst viel später. 

Gestern dann beim Elterngespräch in der Schule offenbarten die beiden Lehrer der Klasse endlich die doch dramatische Lage, und auch, wie viele Unterrichte sie scheinbar seit einiger Zeit überhaupt nicht mehr besuchte. Ich war fassungslos. Das so spät erst zu erfahren, doch auch angesichts der Hilflosigkeit der Pädagogen. 

Zwischen manchen Lehrkräften und Lola schien es sich richtiggehend verhärtet zu haben. Lehrer, bei denen sie vorher begeistert beim Unterricht dabei war, wo sie sich aber auf einmal weigerte, in den Raum zu gehen. Vehement, über Wochen. Und weder Bitten, Wünsche, klare Ansangen, Drohungen brachten sie dazu, aufzustehen, und einfach zum Unterricht gehen. Den sie eigentlich gerne mag, und lange begeistert mitgemacht hatte. 

Vielmehr steigerte sie sich sogar in einen verkrampften, weinerlichen, jammernden Zustand hinein, manchmal in Tränen aufgelöst, aber unfähig sich zu bewegen, oder wenigstens zu sagen, was sie beschäftigte oder hinderte, aufzustehen, und wenigstens in den Ruheraum zu gehen. Wie in Trance manchmal. Obwohl sie zu Hause nie solche 'Ausfälle' hat.

Gestern im Elterngespräch stellten die Lehrer dann die Idee vor, es vielleicht mal mit einem 'Tokenbuch' zu versuchen. In dem sie für jede Schulstunde am Tag von jetzt an einen von drei Punkten erhält. Rot, wenn sie nicht zum Unterricht geht. Gelb, wenn sie anwesend ist. Und Grün, wenn sie hingeht und mitmacht. 

Zum Abschluss des Gesprächs stellten wir gemeinsam Lola das Buch vor, verbunden mit der Ansage, dass sie von jetzt an für jeden Unterricht einfach einen dieser Punkte bekommt. Sich aber keiner mehr weiter bemühen wird, sie in den Raum zu bekommen. Sie ist jetzt selber dafür verantwortlich. 

Schon direkt im Gespräch meinte Lola, noch etwas verborgen unter ihrer Kapuze, in die sie sich verkrochen hatte, dass sie gerne immer grüne Punkte haben wollte. 'Ja, super Idee, Lola', meinte ich. 'Morgen geht's los'. 

Und heute beim Frühstück besprachen wir nochmal gemeinsam alle Unterrichte, wo sie heute hin muss, und die Räume, und dass sie am besten auch als erste da hin geht, wenn sie ihren Lieblingsplatz will (den sie manchmal nicht bekommt, weswegen sie dann auch nicht rein will, erzählte sie auf einmal). 'Na dann, rennst du am besten direkt nach dem Frühstück schnell hin und bist als allererste drin'. Sie nickte begeistert. 

Und als ich sie heute Nachmittag an der Schule abholte, strahlte mich Lola voller Begeisterung an. "Nur grüne Punkte", sagte sie. 'Überall mitgemacht'. 

Ich zweifelte etwas, flunkerte sie mir etwas vor? Nein, sie erzählte sogar zum ersten Mal seit langem, was sie alles im Unterricht gemacht hatten, worüber sie geredet haben, wer neben ihr saß. Wo sie vorher immer nur lapidar 'weiß nicht' gesagt hatte (klar, weil sie nicht da war). Und auch die Lehrerin bestätigte, dass sie in allen Fächern super mitgemacht hatte. Alle Aufgaben gelöst. Wahnsinn. Für ein paar grüne Punkte!?

Weil sie es wollte! Weil sie sich entschieden hatte, hinzugehen. Und zeigen konnte, dass sie es kann, alleine. Scheinbar wieder eine neue Phase der Autonomieentwicklung. 

Und ihre Verweigerung zuvor? Vielleicht ihre Form des pubertären Protests. Der Revolte. Ein Ausloten dessen, was geht und was nicht. Wie hart die Regeln sind, und was passiert, wenn sie sie überschreitet. Bis zur Schmerzgrenze... Auch wenn sie eigentlich viel lieber mitmachen wollte.

Wie gut, dass sie Pädagogen endlich so offen waren, das Problem gemeinsam zu besprechen. Und wir - zumindest für den Moment - einen Weg gefunden haben, sie zu motivieren. Indem ihre Kooperation bzw. Verweigerung auf einmal sichtbar wird (als Punkt). Und sie nun einen sichtbaren Anreiz hat, mitzmachen. 

Ich bin gespannt, ob es auch weiter wirkt. Und werde berichten :-) Drückt die Daumen!

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