Seiten

Mittwoch, 22. November 2017

Frei zu sein bedarf es wenig...

Meine Freiheit ist für mich so essentiell, dass ich sie noch nie in Frage gestellt habe. Und nie geglaubt hätte, dass andere Menschen das tun können. Erst recht nicht Menschen, die mir nahe stehen.

Bis ich neulich einen Abend mit einem alten Freund verbracht habe, A..

Wir haben zusammen an der Humboldt Uni in Berlin Volkswirtschaft studiert, irgendwann Ende der Neunziger. Und eine Zeitlang fast jeden freien Abend zusammen verbracht.

Wir haben im "Tilli" (Tilsiter Lichtspiele) in der Richard-Sorge-Strasse im Friedrichshain gesessen. Haben diskutiert, was unser Leben damals so bereit hielt. Und das war nicht wenig. Haben geraucht. Wie alle. Und Bier getrunken. Viel Bier.

Auch diesmal haben wir diskutiert. Viel diskutiert. Aber irgendwie anders.
Es scheint doch mehr Zeit vergangen, als ich gemerkt habe.

Oder irgendetwas anderes hat sich verändert.

A. hat von seinem Job als Business Analyst erzählt. Damals, in unseren Nächten im Tilli,  hatte er gerade seine erste Stelle in einem kleine Start-up in Berlin-Mitte bekommen. Und war chronisch überarbeitet.

Heute ist das kleine Start-up von damals Teil eines grossen Business-Consortiums. Es ist Senior-Analyst. Und verdient mit dem Schreiben von zwei Blogbeiträgen pro Monat so viel wie ich im ganzen Jahr.

Zufrieden lehnt er sich zurück.

Begeistert berichtet er von seinem letzten Blogbeitrag über den Wirtschafts Nobelpreis-Träger Thaler. Im Bereich Behavioral Economics. Ich versuche möglichst unauffällig zu vertuschen, dass ich den Namen Thaler nicht erinnere. Von der Verleihung nichts mitbekommen habe. Und von Behavioral Economics noch nie etwas gehört habe.

Wie schlecht ich doch informiert bin. Damals hätte ich mitreden können. Zum Glück erzählt er so begeistert, dass er mein Unwissen kaum bemerkt, und mein interessiertes Nicken eher als informierte Zustimmung erlebt.

Er berichtet enthusiastisch von einem Buch, das er gerade verschlungen hat und mir dringend empfiehlt. Von einem Japaner. Es sei zu seiner neuen Bibel geworden. Unbedingt muss ich das lesen.

Der Autor zeige darin sehr deutlich anhand umfangreicher Forschungsergebnisse, dass unser freier Wille nur eine Illusion ist und unsere Entscheidungen im Grunde alle getroffen werden, bevor wir uns dessen bewusst werden. Dass von bewusster Entscheidung also überhaupt keine Rede sein kann.

Freier Wille, Bewusstsein. Damit kenne ich mich besser aus.

"Und welche Instanz in uns trifft dann diese Entscheidung?", frage ich neugierig.

"Im Grund ist es vorherbestimmt. Durch unsere Prägungen, früh erlernten Muster, eingeschliffene Gewohnheiten. Wirklich frei ist man in seiner Entscheidungen nie, auch wenn man das glaubt."

"Aber irgendetwas in uns trifft doch die Entscheidung? Das bin doch ICH am Ende."

"Nein, das glaubst du nur. Im Grunde ist das vorherbestimmt. Determinert. Freiheit ist nur eine Illusion."

Ich erinnere mich an Forschungsergebnisse, die zeigen, dass ein unbewusster Teil von uns Informationen verarbeitet und Regelmäßigkeiten erfasst, lange bevor unser bewusster Verstand dies explizit erkennt. Ich habe das immer als 'Intuition' verstanden.

"Vielleicht weisen die Daten darauf hin, dass wir viele Entscheidungen eben nicht bewusst, sondern unbewusst treffen, auf Basis unserer Intuition, einer viel umfasssenderen Wahrnehmungsfähigkeit als der, über die unser bewusster Verstand verfügt", werfe ich ein.

"Was soll das denn sein? Im Grunde sind das nur angelernte Verhaltensweisen, übernommene Entscheidungsmuster, Konditionierungen... "

"Und wenn ich dir jetzt eine reinhaue, dann ist das meine freie Entscheidung. Oder?"

"Nein, das wäre determiniert."

"So ein Quatsch", sage ich. "Es gibt immer diesen einen Moment, so klein er auch sein mag, in dem ich die Möglichkeit habe, mich dafür oder dagegen zu entscheiden. Zuzuschlagen. Oder - mich zu beherrschen. Das ist meine Freiheit. Die macht mich doch erst zum Menschen!"

"Du denkst du hast die Wahl. Aber im Grunde verhälst du dich nur so, wie du es gelernt hast. Weil es alle anderen um dich herum auch so machen. Das determiniert dich", antwortet A. und nimmt einen kräftigen Zug aus der Bierflasche.

"Aber wenn ich keine Freiheit habe, keine Wahl, entziehe ich mich damit meiner menschlichen Verantwortung! Ich kann nicht anders, das haben mir meine Eltern so beigebracht, das wird bei uns so gemacht, tut mir leid... Dann habe ich auch keine Grundlage mehr für ethische Grundsätze und Werte, auf deren Basis ich handle. Das ist doch eine zutiefst pessimistische Vorstellung.... ", erwidere ich, nun immer emotionaler.

"Werte, die sind ja auch nur ein gesellschaftlich akzeptiertes Konstrukt. Genauso wie der Humanismus. Das ist auch nur eine Ideologie unter anderen ... ", erwidert A.

"Aber eine, die ein gutes menschliches Miteinander mit gegenseitigem Respekt möglich macht. Wenn ich unsere Freiheit negiere, dann sind wir doch alle nur Zombies unserer Vergangenheit oder Opfer irgendwelcher Trends und populistischer Führer, denen wir blind hinterherrennen."

"Genauso. Das sind wir auch... Und genau damit arbeitet beispielsweise das Marketing!"

Ich bin schockiert.

"Aber damit negierst du auch jede Möglichkeit des Menschen, sich zu ändern. Psychotherapie: arbeitet genau an diesem Punkt. An dem der Mensch sich entscheiden kann, einen kurzen Moment lang, einem erlernten Muster gemäß zu reagieren, oder eine andere Reaktion zu zeigen. Bewusst einen anderen Weg zu wählen. Das ist seine Freiheit, seine Kreativität und seine Menschlichkeit. Wenn ich die den Menschen abspreche, dann kann ich mich gleich vom Turm stürzen..."

A. nimmt noch einen Schluck aus der Flasche und zuckt mit den Schultern. "Wenn du an die Freiheit glauben möchtest, kannst du das ja."

"Aber das ist doch keine Glaubensfrage. Unsere Freiheit ist ein Faktum!"

"Es gibt bisher keine wissenschaftlichen Belege dafür. Die bisherigen Studien konnten es nicht nachweisen. Im Gegenteil... "

"Weil die Messinstrumente dafür nicht geeignet sind. Weil wir an den falschen Stellen suchen, weil unsere Freiheit sich nicht in einem bestimmten Hirnareal lokalisieren und auf ein Modul reduzieren lässt. Weil sie unser gesamtes Menschsein umfasst... "

"Was schwafelst du denn da? Das ist ja fast Esoterik... Wo sind denn die Fakten? Was ist denn aus Dir geworden, Amelie...?"

Nun fühle ich mich angegriffen. Habe ich doch zu viele Psycho-Bücher gelesen? Nein! 

"Bloß weil man etwas nicht anhand von Daten wissenschaftlich nachweisen kann, bedeutet es nicht, dass es nicht existiert. Was für eine gnadenlose Überschätzung unserer modernen wissenschaftlichen Methoden. Große menschliche Geister waren zeitlebens durch reines Nachdenken zu großen Einsichten fähig, die nicht weniger bedeutsam sind", sage ich mit Heftigkeit. Und fahre fort:

"Wenn du dem Menschen seine Freiheit absprichst, dann enthebst du ihn seiner Verantwortung. Dann hat er einen Freibrief für jedes Verhalten. Denn er konnte ja nicht anders. Ihn trifft keine Schuld. Er ist Opfer seiner Muster. Dagegen wehre ich mich."

"Naja, dann glaub halt weiter dran", sagt A. und steht auf, um eine Zigarette zu rauchen.

Und ich verstehe nichts mehr.

Ticken so die Business Leute im Innersten? Ist das das Menschenbild, das dem Wirtschaftsleben im Kern zugrunde liegt? Ich habe doch auch einmal Volkswirtschaft studiert? Habe ich da auch so gedacht?

Was ist mit unserem kritischen Denken passiert? Wo ist es hin, unter der stillen Diktatur des Kapitals? Freie Meinungsäußerung ohne Freiheit?

Kurz später - ich kann nicht anders - mache ich von meiner Freiheit Gebrauch: und gehe ins Bett.

Zum Glück haben A. und ich danach noch zwei Tage miteinander verbringen können, waren wandern mit den Kindern, haben gelacht, gegessen und getrunken. Und über viel anderes diskutiert, was unser Leben heute so bereit hält. Und das ist nicht wenig.

Aber unser Gespräch hat mich nachdenklich gestimmt. Sehr nachdenklich.

Zum Abschluss dieses Zitat von Viktor Frankl, einem großartigen Denker, Psychologen und Überlebenden von Ausschwitz:
"Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum.
In diesem Raum haben wir die Freiheit und die Macht,
unsere Reaktion zu wählen.
In unserer Reaktion liegen
unser Wachstum und unsere Freiheit."

1 Kommentar:

  1. Was der Mann da zum Besten gegeben hat, wird wohl so oder ähnlich in jedem Introduction Cultural Studies Kurs in Anglistik/Amerikanistik auch erzählt (ich erkläre meinen Studis die constructivist hypothesis jedes zweite Semester, wenn ich den sehr interessanten Kurs unterrichte). Das Wissen um Konstruktivismus ist mittlerweile "allgemeines kulturwissenschaftliches Wissen" - und auch nicht in Japan erfunden worden. Ich sage meinen Studierenden in dem Zusammenhang immer wieder, dass ich NICHT glaube, dass mein Selbst und meine Entscheidungen einzig und allein Resultat irgendwelcher kulturellen Prägungen sind. Kultureller Determinismus ist zur Zeit eine der gängigen Ideologien, bestimmt ist auch was dran an der Sache, aber muss man denn wirklich jedes Wort, das ein schlauer Theoretiker geschrieben hat auch glauben? Sicherlich nicht.

    AntwortenLöschen