Sonntag, 22. Januar 2023

Dem Rausch sei Dank

Freitag Nachmittag, ich sitze im Zug nach Berlin. Ein freies Wochenende vor mir, ganz allein mit meiner besten Freundin U. Das erste Mal seit 20 Jahren, dass wir ein Wochenende zu zweit verbringen, ohne die Kinder, ohne die Männer, ohne Verpflichtungen. Die Wintersonne scheint in den Waggon, ich öffne das Büchlein 'Hier geht's lang' von Elke Heidenreich, über die Bücher von Frauen, die ihr Leben geprägt haben. Lese, mache mir Notizen, schaue aus dem Fenster. Träume von den Strassen von Berlin, vom Theaterabend morgen abend, von unserem Besuch in der Gemädegalerie, unseren Gesprächen darüber. Wie wir uns endlich die Welt und die Stadt und das Leben zurückerobern.

Am Bahnsteig kommt mir U. strahlend entgegen. Lange drücken wir uns. Einmal ganz ohne die Kinder und Männer im Schlepptau, nur wir beide. Wir fahren mit der S-Bahn zum Alexanderplatz, vorbei an meiner alten Fakultät, die Lichter des Fernsehturms blinken am Himmel. Steigen in die Tram und am Prenzlauerberg wieder aus, spazieren durch die mit Läden und Cafes und Restaurants gesäumten Strassen um den Kollwitzplatz und denken zurück an die Tage, wo wir Anfang der Neunziger Jahre hier zum ersten Mal lang gingen. Und uns in das einzige Cafe am Platz setzten, wo der Putz von den Wänden bröckelte. Heute gehen wir asiastisch essen und danach in ein schickes Weinlokal mit einem Michelin-Stern, und bestellen Drinks: sie einen Gin Sour und ich einen reinrassigen Grauburgunder. Die Nacht kann kommen. 

Der Abend wird lang, zwischen dem Schwelgen in alten Erinnerungen und dem uns gegengeistig Updaten über die energetisierenden Kräfte unser kreativen Arbeit, bis die Kellnerin uns rausschmiesst. Sie wollen Feierabend machen. Nach Umwegen landen wir in der Bar unter der Wohnung in der Sredzkistrasse, wo wir übernachten. U. bestellt Negroni, ich Aperol Sprizz. Und die Gespräche werden tiefer, lustiger, mit grossen Augen lauschen wir den vielen Geschichten, die sich über die Jahre in uns angestaut haben, die wir nie Zeit und Raum hatten uns zu erzählen. Wir wollen nicht gehen, so rauschselig ist dieser Abend. Sie bestellt noch einen Drink mit Whiskey und Sahne, ich noch einen kleinen Sprizz. Bis die Barkeeperin uns auch hier rausschmeisst. Glücklich wanken wir die Treppen hoch zur Wohnung, uns haltend an den Wänden. 

Erst gegen Mittag erwache ich, wecke meine Freundin, wir haben doch so viel vor, wie konnten wir verschlafen. Cafes, Secondhandläden, Theater, Tanzen mit Freunden, vielleicht noch eine Galerie dazwischen... Die Großstadt und das Leben rufen. U. öffnet ein Auge. Ihr Kopf schmerzt, ihr Magen rebelliert, sie kann nicht aufstehen. "Wie dusselig", sagt sie. Dreht sich um und schläft weiter. Nach einer Stunde wecke ich sie vorsichtig, biete ein weißes Brötchen an, einen heißen Tee. Sie probiert, aber ihr Magen spielt immer noch verrückt. "Es tut mir leid", sagt sie und schläft weiter. Ich gehe ins Wohnzimmer  und schaue aus dem Fenster. Öffne mein Schreibheft und beginne zu schreiben. Während es draussen zu schneien beginnt und meine Freundin schläft. Hinter den Fenstern höre ich die Großstadt.

Um 15 Uhr steht sie kurz auf und legt sich aufs Sofa ins Wohnzimmer. Ich lese aus dem Buch "Schreibtisch mit Aussicht" vor, Geschichten von Schrifstellererinnen über ihr Schreiben. Sie lächelt dankbar, sagt kurz ein paar Worte und schläft wieder ein. Erst gegen 18 Uhr ist sie so weit, dass sie etwas Kleines essen kann, eine Suppe vom Asiaten. 

Wir sitzen im Wohnzimmer, schauen durch die Altbaufenster in den Nachthimmel und fangen an, uns der alten Zeiten zu erinnern. All der Reisen, die wir gemacht haben, der wilden Feste, der WGs, die wir gemeinsam bewohnt haben. Und beginnen zu schreiben: "Ich erinnere mich.... " 20 Minuten lang, all die kleine und großen gemeinsamen Erinnerungen, ungeordnet, die wie ein Feuerwerk im Kopf aufpoppen, kaum haben die Stifte Zeit, hinterherzukommen. Anschließend lesen wir uns abwechselnd unsere Texte vor. Lächeln, lachen und weinen still, berührt von den Momenten, die wir alleine nicht mehr erinnert hätten.

Welch ein Reichtum, der uns verbindet. Über all die 30 Jahre, die wir uns kennen. Ein geteiltes Leben. Beglückt strahlen wir uns an. Und wissen, dass wir diesen gemeinsamen Tag in der kleinen Wohnung in der Sredzkistrasse im Prenzlauerberg nicht vergessen werden. Dass er Teil wird von diesem gemeinsamen Erinnerungsschatz. Auch und vielleicht gerade, weil er so ganz anders war, als erwartet. Weil er uns unverhofft die Zeit geschenkt hat, all das gemeinsam Erlebte wahrzunehmen, auf Papier festzuhalten und es 'zu feiern', statt dem noch so viele neue Eindrücke hinzuzufügen. Einer berauschten Nacht sei Dank!

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