Ein Tag auf der Buchmesse liegt hinter mir. Ein spannendes Buch in meiner Hand, das ich schnell noch in der S-Bahn 'verschlinge'. Ausstieg 'Wilhelm-Leuschner-Platz'. Die Sonne scheint, Menschen auf Bänken, alles lacht. Mein Fahrrad wartet auf die Heimfahrt, aber ich setze mich auf eine Bank. Lache mit und beende das Buch-Kapitel. So einfach kann es sein. Manchmal.
Vertieft wache ich aus auf dem Buch und bemerke drei junge Menschen. Dunkel gekleidet. Mustern die Passanten, streben raschen Schrittes auf einen zu, verwickeln ihn in ein kurzes Gespräch. Die Passanten winken ab, streben weiter. Schon stechen sie zu auf den nächsten. Skurril wirkt das Ganze. Wie ein Tanz der Vampire. So dunkel wie die drei gekleidet sind, so ernst ihr Gesichtsausdruck.
Zeugen Jehovas, die nun in offensiver Mission sind? Politische Aktivisten? Nein. Eine Performance. Wie diese, die ich neulich bei der Galerie für Zeitgenössische Kunst gesehen habe. Die machen ein Video über die Reaktionen der Passanten auf direkte Fragen. Vielleicht zur Flüchtlingsfrage, zu anderen Formen der Diskriminierung. Wollen die Gleichgültigkeit der Menschen darstellen. Ich suche den Vorplatz nach Video-Kameras ab. Außer den Überwachungskameras über dem S-Bahn-Eingang kann ich keine entdecken.
Neben mir sitzt ein anderer unbeteiligter Sonnen-Genießer. Er scheint nichts zu bemerken. Ich fange seinen Blick. "Was machen DIE?", frage ich ihn mit geheimnisvollem Unterton. "Ist das eine Performance?"
Er zieht die Brauen hoch. "Die werben für irgendwas," sagt er achselzuckend und deutet auf ein paar weiße Aktenordner, die auf den Bänken neben uns liegen. Neben ein paar dunklen Sonnenbrillen.
"Aber doch nicht so! Indem sie direkt auf die Passanten zustechen, mit solch einem Gesichtsausdruck. Das verschreckt doch jeden! Das ist bestimmt eine Form 'versteckter Kamera'".
Mißtrauisch mustern wir nun schon zu zweit das bizarre Vorgehen der drei dunklen Gestalten, eine weiblich, zwei männlich.
Die Frau bemerkt unsere Aufmerksamkeit, wendet den Blick von den Passanten uns zu und kommt näher. Jetzt sind wir dran!
"Was macht ihr da?", frage ich offensiv. Gar keine Angriffsfläche bieten. Gleich deutlich machen, dass ich das Spiel durchschaut habe. Ich falle nicht rein auf solche Aktionen.
"Wir suchen Unterstützer für die Christoffel-Mission."
Wusste ich es doch. Irgendwelche Missionare.
"Das ist eine Organisation, die weltweit blinde Menschen unterstützt", sagt sie.
Blinde Menschen? Im Glauben, oder was ihr Augenlicht angeht? Ich muss an meine Nachbarin denken, die drei kleine Söhne hat. Und nach der Geburt des Jüngsten aufgrund einer Blutvergiftung erblindet ist.
"Ja? Meine Nachbarin ist auch blind", sage ich. Als ob mich das schützen könnte.
"Wenn Sie mögen, kann ich Ihnen mehr über die Organisation erzählen", sagt sie. Und sieht schon viel weniger streng aus.
"Ihr werbt wirklich für eine Organisation? So ganz ohne Material und Tisch und Broschüren? Indem ihr direkt auf die Leute zurennt? Das kann doch nicht klappen", sage ich. Obwohl ich immer noch nicht sicher bin, welcher Film gerade läuft.
"Ja, wir hatten heute kein Auto und mussten mit der Bahn kommen. Da war kein Platz für das ganze Material", sagt sie und lächelt entschuldigend. "Aber ich erzähle Ihnen gerne mehr."
Normalerweise sagen ich immer in diesen Situationen, dass ich ihr Engagement sehr gut finde. Aber leider schon Mitglied und Unterstützer mehrerer Vereine bin. Und außerdem von drei Kindern, was mir weder zeitlich noch finanziell große Ressourcen lässt. Aber irgendwie will ich wissen, ob es stimmt, was sie behauptet. Oder am Ende doch nur eine große Plastikente aus dem Ordner in mein Gesicht springt. Und nicke zustimmend.
Sie holt den Ordner von der Bank und setzt sich neben mich. Öffnet die erste Seite. Ein Bild von einem dunkelhäutigen Kind mit Augenverband erscheint. Ohne Ente.
Dann erklärt sie mir, wie sich ihre Organisation weltweit für von Erblindung bedrohte Menschen einsetzt. Medikamente gibt, Operationen vornimmt. Kleine Eingriffe mit großer Wirkung. Zeigt mir Bilder, Zahlen, Tabellen. Ich lese Werbesprüche, denen ich kaum Glauben schenken kann. Schon 50€ schenken einem Menschen sein Augenlicht.
"So wenig? Wie kann eine Operation so günstig sein?" frage ich.
"Durch das unentgeltliche Engagement von 'Ärzte ohne Grenzen'. Die ihre Arbeit nicht in Rechnung stellen", sagt sie und lächelt.
So viele Menschen auf der Welt leisten so viel für andere. Denke ich. Aber die will mich doch nur rumkriegen. Denkt die andere Seite.
"Und warum macht ihr mit einem so grimmigen Gesichtsausdruck Werbung für eine so gute Sache?", frage ich. "Ihr habt gerade die Leute angeguckt, als wolltet ihr sie lynchen, wenn sie nicht direkt stehen bleiben."
"Ach", sagte sie und der letzte Ernst fällt aus ihrem Gesicht. "Weil heute einfach der Wurm drin ist. Von Anfang an ist es nicht gelaufen. Wir haben überhaupt nichts hingekriegt heute. Den ganzen Tag. Obwohl die Sonne scheint, Massen an Leuten hier freundlich in der Sonne saßen. Aber niemand wollte uns unterstützen... jetzt machen wir noch eine Extra-Überstunde, in der Hoffnung, wenigstens noch ein paar Unterstützer zu gewinnen."
"Na, so wie ihr die Leute attackiert habt, wundert mich das nicht", sage ich und lache sie an.
"Wirklich? War es so schlimm?", sagt sie und schüttelt seufzend den Kopf. "Ich weiß einfach nicht, was heute los ist. Keine Ahnung. An anderen Tagen läuft es so gut. Aber heute... . Und ich bin die Koordinatorin. Bin verantwortlich, dass alles läuft. Keine Ahnung, wie ich das meinem Chef erklären soll."
"Den Stress hat man Euch echt angesehen. Dass ihr jetzt UNBEDINGT jemanden ansprechen wollt. Mit solch einem Druck, dass alle gleich weiter wollten. Wie es so ist, wenn man unbedingt etwas will...", sage ich und muss an meine Versuche denken, meine Selbständigkeit aufzubauen. Je krampfhafter ich mich bemühe, desto mehr verschlossene Türen finde ich.
Aber jetzt scheint die Sonne. Ein schöner Tag auf der Buchmesse liegt hinter mir. Vor mir sitzt eine verzweifelte junge Frau, die sich für blinde Menschen einsetzt. So wie viele andere auf der Welt. Für Menschen, wie meine Nachbarin. Damit sie nicht das Augenlicht verlieren. Und die Sonne scheint. Und heute bin ich nur durch sperrangelweite Türen gerannt.
"Was ist denn der Mitgliedsbeitrag?", frage ich.
"6 Euro monatlich", sagt die junge Frau und guckt mich irritiert an. Als sei das das Letzte, was sie erwartet hätte. Nachdem sie mir ihre auswegslose Tagessituation samt Resignation erzählt hat.
6 Euro im Monat. Das sind zwei große Milch-Kaffee. Das geht, denke ich.
"Ich würde gern Förderer werden!", sage ich. Und bin selber überrascht über meine Entscheidung.
"Wirklich?", sagt sie. "Das gibt's doch nicht..."
"Ja, ich denke, das ist eine gute Sache."
Ungläubig schüttelt sie den Kopf. "Das hab ich ja noch nie erlebt. Das ist ja Wahnsinn", sagt sie. Und grinst plötzlich über beide Backen.
Sie füllt den Antrag aus. Ich unterschreibe. Und weiß nicht so recht, was ich da gerade gemacht habe. Aber es fühlt sich großartig an.
"Du hast meinen Tag gerettet. Danke!!!", sagt sie zum Abschied und strahlt mich an.
"Das freut mich", sage ich und fühle Kribbeln im ganzen Körper. Steige auf mein Fahrrad und fahre in der lauen Frühlingsluft nach Hause. So einfach kann sich Glück anfühlen.
Vielleicht sollte ich jetzt mal googlen, was diese Christoffel-Mission eigentlich macht? Und wer dahinter steckt? Vielleicht ist es auch egal...