"Katastrophen sind oft die besten Katalysatoren für notwendigen Wandel", schreibt Prof. Querulix, der passenderweise auch Satiriker ist, denn über diese Erkenntnis konnte ich letzte Woche nicht wirklich lachen. Erst im Nachhinein.
Da hatte ich endlich einen neuen Corona-Alltag etabliert und meine erste kinderfreie Arbeitswoche zu Hause 'geniessen' dürfen, da wurde letzte Woche auch schon die Bundesnotbremse beschlossen. Klartext: auch Pavel als Grundschulkind bleibt nun im Wochenwechsel zu Hause. Und zwar antizyklisch zu Greta und Lola. Also: geregelter Alltag und 'kinderfreies' Arbeiten auf absehbare Zeit wieder nicht in Sicht.
Der Streifen Licht am Horizont schon wieder genommen. Nein! Schrie alles in mir. Welch eine Ungerechtigkeit. Immer müssen die Familien zurückstecken, natürlich allen voran die Mütter. Das darf doch nicht wahr sein.
Ich schwankte zwischen der Idee, Hilferufe auf Facebook zu posten ("Mutter von akutem Nerven-Zusammenbruch bedroht'), einen Brief ans Bundesfamilienministerium zu schreiben und auf die allgemeine Notlage der Familien aufmerksam zu machen und der Möglichkeit, einfach resigniert im Bett liegen zu bleiben, und zu schauen, wie die Kinder sich selber versorgen. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Lasst mich in Ruhe, wollte ich der Welt ins Gesicht schreien.
Nachts ratterten die Gedanken, wie ich Hilfe bekommen kann. Und woher ich die Kraft nehmen soll. Und wer sich bitte um mich kümmert? Bis ich mich so verbissen hatte in meine Suche nach Hilfe, dass ich nicht mehr schlafen konnte. Und am Morgen gerädert am Tisch saß.
"Hast Du Deine Tage, Mama?", fragte Pavel. "Du bist so ernst."
"Nein, schlimmer. Ach egal, wird schon", sagte ich und trank meinen Kaffee. Nur die Aussicht auf eine Fahrradfahrt zu seiner Schule baute mich ein wenig auf. In der strahlenden Morgensonne, bei frischem Frühlingswind strampeln und wenigstens auf der Strasse vorwärts kommen.
Doch als wir auf den Hof traten, war mein Fahrrad nirgends zu entdecken. Da, wo ich es immer abschliesse, war ein schönes glattes Geländer zu sehen. Doch kein Fahrrad. Eine Millisekunde lang die Überlegung, wo es sein könnte. Dann der Schrecken der Erkenntnis. "Es ist geklaut." Irgendwer hat mein Fahrrad heute Nacht aus dem Innenhof geklaut. Das darf doch nicht wahr sein. Und plötzlich Leere in meinem Kopf. Wo bis vorhin noch Rattern war. Und die Erkenntnis: es kann immer noch schlimmer kommen.
"Und was machen wir jetzt", fragte Pavel. Und schaute ganz traurig. Fast ein wenig schuldbewusst. Als könnte er etwas dafür.
"Wir fahren mit dem Auto. Und dann kaufen wir ein neues Fahrrad", antwortete ich. Plötzlich ganz ruhig, angesichts der Tatsache, dass sich dieses Problem lösen lässt. Ich hatte keine Kraft mehr, um mich aufzuregen. Es war einfach keine Energie für Ärger oder Wut mehr da.
Und nachdem Pavel in der Schule war, kümmerte ich mich um die 'Lösung des Problems'. Fahrrad als gestohlen melden, bei Ebay nach einem Gebrauchtrad recherchieren, beim Fahrradladen eines neues Rad bestellen. Und mich endlich über Fahrradversicherungen erkundigen, was längst überfällig war. Nach einer Stunde war ich fertig und hatte das gute Gefühl, etwas geschafft zu haben. Wenigstens das. Und fast beschwingt ging ich durch den Tag. Mit dem heilsamen Wissen, dass es immer noch schlimmer kommen kann.
Um mir dennoch Abhilfe zu verschaffen, erzählte ich jedem der Nachbarn von dem Diebstahl, fragte, ob sie jemanden gesehen hätten. Verdächtigte heimlich die Bauarbeiter auf der nahe gelegenen Baustelle, den neuen Untermieter der Hofwerkstatt. Erfuhr Wissenswertes darüber, wie leicht die ABUS-Schlösser zu knacken sind, und dass Textilschlösser viel besser (und natürlich auch viel teurer) sind. Und war schon drauf und dran den Hauseigentümer anzurufen, dass er endlich das schlecht schliessende Torschloss reparieren soll. Und lernte auf diese Weise meine Nachbarn ein ganzes Stückchen besser kennen.
Einer meinte sogar, dass er so ein Rad wie meines (ein rotes Hase Pino Tandem) an der Ecke beim Konsum gesehen habe. "Ja", sagte ich lachend. "Das muss gestern gewesen sein. Da habe ich morgens kurz beim Bäcker geparkt, als ich Brötchen holen war." Und weiter unterhielten wir uns über die hohe Zahl der Fahraddiebstähle in Leipzig und die enormen Versicherungsbeiträge. Bis ich mich verabschiedete und mit meinem Baumwollbeutel zum Konsum ging, um für's Abendessen einzukaufen.
Als ich schwer behängt mit den Einkäufen und einem Sack Kartoffeln wieder nach Hause ging, fiel mein Blick auf ein rotes Tandem von Hase Bikes, ganz genau wie unseres. Das beim Bäcker an der Ecke stand. Merkwürdig, dachte ich. Das sieht genau aus wie unseres. Ist das etwa unseres? Haben die Diebe das nur bis hierher gebracht und dann einfach stehen lassen? Weil sie das Schloss doch nicht knacken konnten?
Bis mich die Erkenntnis wie ein Blitz traf, dass das UNSER Fahrrad ist. Das ich da gestern früh einfach hab stehen lassen. Woran ich mich heute früh, nach einer halb durchwachten Nacht voller Sorgen, nicht mehr erinnern konnte. Zumal es mir in diesem Geisteszustand nahe lag, sofort von der größtmöglichen Katastrophe auszugehen. Gemeiner Diebstahl.
Ich konnte mein Glück kaum fassen. Stieß einen Freudenschrei aus, dass sich die Passanten irritiert umdrehten, und schob mein wiedergewonnenes Fahrrad strahlend über die Strasse. Der schönste Moment der letzten Woche! Gefühlt hatte ich all das Geld gewonnen, dass ich im Geiste schon für das neue Rad ausgegeben hatte. Wahnsinn!
Und welche Erkenntnis habe ich daraus gewonnen?
Dass uns das Leben die schönsten Geschenke macht, wenn wir immer vom schlimmsten ausgehen. Oder andersherum: Dass es meist längst nicht schlimm kommt, wie befürchtet. Und ich mir die ganzen Sorgen und schlaflosen Nächte lieber spare. Und mich für den Ernstfall besser rüste. Eine Fahrradversicherung habe ich jetzt jedenfalls abgeschlossen.