Sonntag, 28. Juni 2009

Aller Anfang ist schwer

Unseren Aufenthalt in Barcelona habe ich genutzt, um die Fundacion Catalana Sindrome de Down zu besuchen und mich über ihre Aktivitäten zu informieren. Ganz kurzfristig haben sie mir einen Termin gegeben und ich konnte mich mit einer in der Frühförderung tätigen Psychologin unterhalten. Ich wusste selber nicht, was ich von diesem Gespräch erwarte, warum ich es überhaupt wollte. Vielleicht einfach, um zu sehen, wie man woanders mit der Frühförderung umgeht, was die Themen sind, was und wie man fördert. Gleich zu Beginn des Gespräches hab ich dann schon auch losgeschossen, über Lolas Entwicklung berichtet, wo sie 'gut' dasteht, wo ihre 'Schwächen' sind, was wir so alles machen, Frühförderung, Physiotherapie, Logopädie. Die Dame hat mir interessiert zugehört, sich Notizen gemacht und in einer meiner Redepausen angefangen, mir zu erklären, was sie so machen.

'Wir kümmern uns in erster Linie um Familien. Um Familien, mit einem Kind, einem Baby. Nicht um ein Baby mit Down-Syndrom. Nein, ein Baby. Und wir kümmern uns um die ganze Familie, als globale Einheit, denn ein Baby existiert nicht ohne seine Familie. Sie ist seine Basis. Wenn wir etwas verändern wollen und müssen, dann die Familie, nicht das Kind. Und zuerst müssen wir uns um die Familie kümmern, um die Eltern, denn die stehen vor einer ganz neuen, für sie schrecklichen Situation. Denn keiner will ein behindertes Kind haben. Niemand wünscht sich das. Auch diese Eltern haben sich das nicht gewünscht. Sie sind zutiefst verletzt und enttäuscht. In ihrem narzisstischen Kern getroffen. Denn sie haben so viele Hoffnungen in dieses Kind gesetzt, so viele Träume, die mit diesem Kind verbunden sind. Und die sind jetzt vernichtet. Sie kommen nicht mit dieser Situation zurecht, denn sie sind Menschen, keine Heiligen. Und wir wollen ihnen dabei helfen, diese Frustration, diese Trauer zuzulassen. Denn in erster Linie ist es Trauerarbeit. Trauer um das Kind, das sie nicht bekommen haben. Und diese Gefühle dürfen sie haben. Sie müssen sie rauslassen dürfen. Dafür sind wir da. Dass sie all die Tränen weinen, Dass sie sich reinigen. Und dann mit der Zeit sich ihrem Kind öffnen können. Dem Kind, das sie bekommen haben. Das anders ist als sie gehofft haben. Wir helfen ihnen, dieses Kind zu verstehen, seine Zeichen, seine Rufe nach Aufmerksamkeit, seine ersten Kommunikationsversuche. Ob es Hunger hat oder müde ist. Wir helfen ihnen, ihr Kind besser zu verstehen, ihm zuzuhören, ihm zuzuschauen, sich auf ihr Kind einzulassen. Seinen langsameren Rhythmus zu verstehen, seine veränderten Zeiten, seine Bedürfnisse. Wir wollen ihnen helfen, sich auf ihr Kind einzulassen, echten Kontakt zu ihm zu bekommen, es anzunehmen, so wie es ist. Denn wir glauben daran, dass das die wichtigste und entscheidenste Basis für Entwicklung ist. Für alle Kinder. Sich angenommen und geliebt fühlen. Spüren, dass man verstanden wird. Alle Kinder brauchen das. Und Kinder mit Down-Syndrom sind da keine Ausnahme. Wenn die emotionale Basis fehlt, kommt es zu Entwicklungsproblemen. Bei jedem Kind. Deswegen wollen wir den Eltern helfen, sich ihrem Kind emotional öffnen zu können. Und dafür müssen sie sich erstmal emotional öffnen, alle Schleusen öffnen, die Tränen rauslassen. Und dafür sind wir da... Wenn die Basis stimmt, wissen die Eltern von alleine, was gut ist für ihr Kind, und für sie selbst. Dann braucht man gar nicht so viel 'stimulieren'. Deswegen sprechen wir von unserer Tätigkeit auch nicht mehr von 'Frühförderung' (estimulacion precoz), sondern von 'Früher Aufmerksamkeit' (atencion temprana).'

Während sie redete, hatte die Dame Tränen in den Augen. Sie war sichtlich berührt. Und ich nicht weniger. Wenn sie mir die Zeit gegeben hätte, ich hätte alle Tränen geweint, die in mir begraben sind. Ich war aber einfach nur fassungslos. Dass mir da jemand ganz offizielles erzählt, dass es absolut dazu gehört, sich schlecht zu fühlen, ja sogar, dieses Kind nicht zu wollen. Dass diese Gefühle menschlich sind, dass wir sie zulassen dürfen, ja sogar müssen. Damit wir weiter kommen. Damit wir unser Kind wirklich annehmen können. Noch nie hatte mir jemand so etwas gesagt. Immer ging es nur darum, dass es so viele Möglichkeiten gibt, dass man heute so viel erreichen kann. Dass man nur ganz früh und ganz viel fördern muss. Damit sich auch alle Potenziale optimal entfalten. Und ich habe immer nur das Gefühl, nicht genug getan zu haben. Und sie? Sie sagt mir, dass das alles gar nicht so wichtig ist. Das wichtigste ist die Beziehung zu meinem Kind. Dass die stimmt. Und dass der Rest von alleine kommt. Dass es nicht darum geht, unsere Kinder so gut wie möglich der Norm anzunähern, durch beste Förderung, sondern sie so anzunehmen, wie sie sind. Und auch uns selber so anzunehmen wie wir sind. Mit unseren Zweifeln, mit unserer Trauer, mit unserer Wut. Wie gut diese Worte getan haben...

Wen es interessiert: Die FCSD ist eine der grössten in Spanien tätigen Vereinigungen zur Förderung von Menschen mit Down-Syndrom jeder Alterstufe. Frühförderung, Spielgruppen, Identitätsbildung bei Kindern, Hilfe zur Selbständigkeit bei Jugendlichen, Wohnbetreuung, Seelsorge, gemeinsame Freizeitaktivitäten für Erwachsene, Tanzveranstaltungen, Ausflüge... Und sie sind auch sehr aktiv auch bei der Publikation von Büchern, Zeitschriften, Dokumentarfilmen, der Organisation von Konferenzen. Und seit 28 Jahren tätig und haben seitdem unglaublich viel bewegt. Und tausenden Familien geholfen, ihre Kinder so lieben zu lernen, wie sie sind.

4 Kommentare:

Gabriela hat gesagt…

Liebe Amelie
du glaubst gar nicht, wie gut mir diese Worte auch jetzt, im Nachhinein noch tun.Genu das ist es, was ich immer gefühlt habe, und genau dies ist es, was mir im Nachhinein soviel Trost gibt, nicht, dass wir und wie wir gefördert haben, sondern dass wir es erleben durften, wie sich Mirjam mehr und mehr und tiefer und tiefer und immer heller in unsere Herzen gezaubert hat, dass es einfach nur richtig war, mit allen Tränen, und dass ich gerade dies bei dir lesen darf....

Danke!

Gabriela

Bettina hat gesagt…

Hallo Amelie,
da bringst du meine ganze Gefühlswelt auf den Punkt. Genauso ist es und geht es mir. Und ich empfinde oft einen Druck, dass es mir ja schnell wieder gut gehen muss und es geht mir einfach nicht wirklich gut.

Ich hoffe so sehr für meine Familie, dass ich meinen inneren Frieden mit der Situation schließen kann. Dass ich nach vorne blicken kann und nicht länger damit hadere, dass das Schicksal mich ausgewählt hat, ein behindertes Kind zu bekommen, das ich eigentlich nie wollte.

Schön, wie du es geschrieben hast und schön, wie es in Spanien gehandhabt wird.

Liebe Grüße

Bettina

amelie hat gesagt…

Bettina,

du weisst gar nicht, wie es mich freut, dass du dich in diesem Beitrag wiederfindest. Um ehrlich zu sein, ich wollte schon ein paar Tage lang über dieses gespräch schreiben, machte es aber irgendwie doch nicht, als ich deinen letzten post las. da dachte ich, ich MUSS über dieses Gespräch schreiben. Denn es tut so gut zu wissen, dass diese gefühle raus dürfen, ja raus müssen. dass wir es sind. dass es dazu gehört. es braucht halt den regen, damit die pflanzen wachsen können...

und liebe Gabriela,

wie freut es mich, dass diese Worte auch deine Gefühle wider spiegeln. Ich war wirklich stark beeindruckt von der natürlichkeit, mit der diese frau ALLE gefühle, wirklich ALLE zugelassen hat. Wir erwarten wohl einfach zu oft von uns, Heilige zu sein. Gut dass einem mal jemand sagt, dass man eben auch nur ein Mensch ist. Mit allem was dazu gehört. Der Fähigkeit zu leiden, zu verzweifeln, aber auch der Fähigkeit zu lieben.

Alles alles liebe,
Amelie

Kathrin hat gesagt…

Hallo Amelie,

doch, es wird viel gesagt, immer wieder - nicht nur von anderen "betroffenen" Eltern, auch von "offizieller" Seite wie den Therapeuten und Ärzten - allerdings wird es sehr selten von den (Neu)Eltern gehört/wahrgenommen/ in sich hineingelassen.

In der Anfangsphase sind nahezu alle fixiert auf Fördermöglichkeiten, Therapien, einfach "Handeln" im wahrsten Sinne des Wortes, vielleicht, um sich aus dem tiefen Loch hervorzubuddeln. Ist ja auch nicht die schlechteste Variante, zumal eigentlich alle aus dieser Phase wieder herausfinden: meist, um 1 Jahr herum, wenn die ersten grossen Meilensteine wie Laufen oder Sprechen eben doch nicht erreicht und noch weit weg sind. Andererseits, nach diesem Jahr, sind sie zu diesem Zeitpunkt plötzlich auch nicht mehr sooo wichtig.

Ja, alles ist wichtig: die Trauer und Tränen um das "verlorene" Kind und Zeit zu haben, dieses unerwartete, auch ungewollte Geschenk anzunehmen und noch mehr Zeit, die unglaublichen Qualitäten dieses Geschenks zu sehen.

Ich erkenne aus Deiner Beschreibung die "typische" Gesprächsführung: Mutter/Eltern: was mache ich, was will ich erreichen, Mache ich alles richtig?!, gibt es evtl. noch bessere Therapiemöglichkeiten/Therapeuten/Ärzte?! Habe ich was "verpasst"? Hätte ich was besser machen können? Um dann dieser unglaubliche Ruhe und Gelassenheit zu begegnen - einfach prima.

Auch wir sagen immer wieder - gerade am Anfang: Lasst Euch Zeit, werdet erst einmal eine Familie, nichts läuft davon, ihr verpasst nichts. Und ich muss sagen, eigentlich werden wir nie gehört.

Aber schön, wenn Du diesen Druck loswerden kannst, den Druck, alles richtig zu machen, immer zu funktionieren (und den Heiligenschein zu abbonieren.) Entscheidungen aus dem Bauch heraus sind selten falsch.

Übrigens, um noch einen drauf zu setzen: Kein Kind wird immer und zu jeder Siztuation geliebt - auch nicht das besondere ;)
Das kann ich ruhigen Gewissens sagen, als Überlebende einer Pupertierenden und einer Schwerkranken.

LG und schönen Sonntag noch
Kathrin