Lola und ich sind mit dem Tandem unterwegs in der Stadt. Die Menschen sitzen in den Straßencafés, der
Flieder blüht, die Stadt pulsiert. Doch Lola ist ungehalten,
unausgeglichen, meckert rum. Und will unbedingt
nach Hause. Um Musik zu hören!
Ich möchte viel lieber die Sonne
und die Luft und die herrliche Sommerstimmung geniessen, aber sie
besteht darauf, zu Hause Musik zu hören. "Ich brauch das, Mama!, sagt sie vehement, stemmt
ihre Arme in die Hüften und weigert sich, weiterzugehen.
Resigniert
gebe ich auf und fahre mit ihr nach Hause. Nehme ihr aber das
Versprechen ab, dass wir am Nachmittag noch in den Garten gehen.
Unwirrsch nickt sie, eilt in ihr Zimmer und schlägt die Türe hinter sich
zu.
Einen Moment später hört man ohrenbetäubend laut Musik.
Vincent Weiss, Mark Foster, Deutsch-Rap. Der Boden schwingt, so laut
springt sie herum, laut singend, fast brüllend. Vor allem bei den
lauten, aggressiven Liedern. Ich kann kaum einen klaren Gedanken fassen,
während ich in der Küche versuche, Spaghetti mit Bolognese
zuzubereiten.
Als ich sie zum Mittagessen rufe, kommt sie erschöpft, aber
entspannt in die Küche. "Auspowert", sagt sie und grinst friedlich. Ich
schüttle entnervt den Kopf und bemerke nur, dass sie doch auch leise
Musik hören kann. Sie schüttelt den Kopf und sagt mit Nachdruck: "Nein,
Mama. Laut! Ich brauch das!"
Ich verstehe, dass es ihrer
Seelenhygiene zu dienen scheint und wahrscheinlich auch altersgemäß
ist. Alle Jugendlichen mit 15 Jahren hängen in ihren Zimmern rum, hören
Musik, und sicher auch öfters laut. Warum sie nicht auch? Aber muss ich
diesen Krach wirklich aushalten? Das Opfer erscheint mir doch zu gross.
Ich
drehe meine Spaghetti auf meine Gabel, schiebe sie in den Mund und
muss plötzlich an die Erzählung meiner Oma über meinen Vater denken. Dass er
als Schüler, wenn er von der Schule nach Hause kam, immer zuerst ans
Klavier ging und eine Stunde oder auch zwei spielte. Erst danach war er
wieder ansprechbereit und konnte 'weitermachen', wie sie sagte. Musik
als Ventil, das er brauchte.
Später, als junger Student und Arzt
machte er die Musik fast zu seinem Nebenberuf, spielte Klarinette in
einer Freiburger Bigband, bei den 'Hallelujah Stompers'. "Mit
unglaublich viel Gefühl und Hingabe, wie kaum ein Anderer",
so erzählte sein alter Studienfreund Hein Linn Jahre später. "Ein
begnadeter Solist".
Nur in seinen letzten Lebensjahren hat mein
Vater keine Musik mehr gemacht. Weder Klavier, noch Gitarre, noch
Klarinette. 'Er habe alles verloren', war seine Begründung. Sein
Anspruch an seine alte Virtuosität liess es wohl nicht zu.
Leider
hat er dabei eines vergessen: dass er die Musik brauchte. Um klar zu
kommen mit dem Leben und - weiter zu machen. Und hat einige Zeit später
tatsächlich Schluss gemacht, mit dem Leben.
Ich lege meine
Gabel auf den leer gegessenen Teller und schaue Lola an, wie sie sich
noch eine weitere große Ladung Nudeln in den Mund schiebt, der ganz rot
verschmiert ist, und hemmungslos und mit offenem Mund kaut. Wie sie auf
andere wirkt oder was sie von ihr denken, ist ihr herzlich egal.
Lola
singt und stampft und schreit sich die Seele aus dem Leib, egal was
andere oder speziell ich davon halten. Mit der klipperklaren Begründung
und Einsicht, die meinem Vater leider fehlte. 'Ich brauch das!'
Und
so lass ich sie wohl weiter gewähren. Ohrenbetäubend laut zu singen, zu
tanzen und zur Not auch zu brüllen. Denn besser sie schreit sich den
Ärger, die Wut und all den Frust hinaus, als
mit eingedrückter Seele irgendwann vor sich hinzuvegetieren.
Und
beim nächsten lauten Konzert von ihr setze ich mich lieber selber ans Klavier
und spiele was. Ohrenbetäubend laut, oder auch ganz leise. Mit dem
Wissen: "Ich brauch das!" Ja, ich auch.