Lola soll zum Augenarzt. So sagt es ein kleiner, gelber Zettel, den ich in einer der vielen Klarsichthüllen in Lolas Ordner gefunden habe. Er trägt den Stempel vom Gesundheitsamt. Und das Datum der Schuluntersuchung von vor etwa einem Jahr. 40% Sehstärke steht da. Wie konnte ich den übersehen? Wollte ich ihn übersehen? (Weil ich von Ärzten so wenig halte?)
Ich wähle zufällig einen Augenarzt in unserer Nähe aus. Am Telefon bekomme ich einen Termin in drei Monaten. Das muss ein guter Arzt sein, wenn man so lange warten muss, denke ich. Ich versuche keinen anderen Arzt zu finden.
Ricardo geht mit Lola zum vereinbarten Termin. Sie soll wiederkommen in zwei Wochen, dann bekommt sie Tropfen. Ansonsten hat Ricardo nichts verstanden. Zwei Wochen später gehe ich mit Lola zum Termin. Ich will verstehen, was sie für eine Brille braucht.
Die Sprechstundenhilfe schickt uns ins Wartezimmer. Zehn leere Gesichter, keiner redet. Zehn Blicke auf Lola, die sich an ein Tischchen gesetzt hat, um mit Lego zu spielen. 10 Blicke, hinter denen ich Gedanken rattern höre. Ich setze ein natürliches Lächeln auf und hoffe auf den Gewöhnungseffekt. Nach 5 Minuten schaut niemand mehr.
Lola setzt Legosteine auf eine Platte, bis die Platte fast voll ist. Die Sprechstundenhilfe ruft uns. Lola darf auf meinem Schoß sitzen und das Kinn auf's Gestell legen und in zwei Linsen blicken. „Schau ganz gerade“, sagt die Schwester. „Was siehst du da liegen auf der Strasse? Einen Wagen?“
Lola hält still, blinzelt kaum. Nach einer Minute ist die Messung beendet. „So Lola, jetzt bekommst du noch ein paar Augentropfen.“ Mein Herz macht einen kleinen Sprung. Ob Lola das mitmacht? Lola hält ganz ruhig, zuckt noch nicht einmal. Mein Herz schlägt wieder ruhig.
10 Minuten warten. Lola bekommt eine Uhr, auf der die Zeit rückwärts läuft. Als sie leise surrt, bekommt sie noch einmal Augentropfen. Dreimal das Ganze. Jedes Mal hält Lola still. Jedes Mal kneift sie die Augen etwas stärker zusammen. Aber es reicht. Ihre Pupillen weiten sich. Nach einer halben Stunde kann die Messung statt finden. Der objektive Wert für ihre Fehlsichtigkeit bestimmt werden. Endlich können wir zum Arzt.
„So, Lola, schau mal durch die Brille da und sag mir, was du siehst,“ sagt er.
Eine Reihe von Zahlen erscheinen auf einer Leinwand.
„Oh, die kannst du bestimmt noch nicht. Entschuldige. Nehmen wir lieber die Bilder. Was siehst du hier?“
Das schwarz-weiße Symbol für ein Flugzeug erscheint. Das Wort kann Lola nicht aussprechen.
„Vogel“, sagt Lola.
„Flugzeug“, korrigiere ich.
„Sie dürfen ihr nicht vorsagen“, sagt der Arzt unwirsch.
„Sie kann das nicht sagen.“
„Dann können wir die Untersuchung nicht machen.“
„Sie müssen ihr einmal alle Symbole erklären und ihr genau sagen, was sie antworten soll. Sie erkennt die Ikons nicht so gut.“
„Aber sie soll es selber sagen.“
Ich werde unruhig und angespannt. Warum zeigt er ihr nicht einfach alle Symbole und sagt ihr die Worte dafür? Hat dieser Arzt jemals mit Kindern gearbeitet? Im Wartebereich war doch Lego?
Das schwarz-weiße Symbol für eine Blume erscheint. Sehr stilisiert. Lola sagt nichts. Beim noch kleineren Auto sagt sie immer noch nichts. Sie kennt diese Worte, aber die Symbole sind zu abstrakt.
„Es geht nicht“, sagt der Arzt. „Aber wahrscheinlich sieht sie sowieso nichts. Sie hat eine Fehlsichtigkeit von 3,75 auf dem linken Auge…“
Ich verstehe nicht. Wieso soll Lola nichts sehen können?
„Das ist uns noch gar nicht aufgefallen, ich hatte immer den Eindruck, dass sie auch in der Weite sehr gut erkennt.“
„Ja, auf dem anderen Auge hat sie auch nur 0,75. Damit kann sie das gut kompensieren. Aber sie ist ja auch nur kurzsichtig, das ist nicht so schlimm.“
„Was meinen Sie damit, dass das nicht so schlimm ist?“
„Naja, im Alltag kommt man mit 40% Sehstärke wunderbar zurecht.“
„Und wieso braucht sie dann eine Brille?“
„Naja, später im Beruf, da sollte man schon besser sehen können. Auch, um den Führerschein zu machen. Das will man ja schon…“
Hat der Augenarzt Lola überhaupt schon mal angesehen? Oder erkennt er sie nicht hinter seinen Apparaten?
„Und jetzt? Hilft ihr die Brille auch jetzt?“
„Meistens sehen die Kinder auch mit der Brille nicht viel besser. Das verbessert sich dann aber. Kommen sie in drei Monaten bitte wieder, wir machen dann eine Kontrolle.“
Ich nehme Lola an die Hand und wir gehen. Lola braucht eine Brille, die ihr ohnehin nicht hilft, um später mal den Führerschein zu machen. Ich verstehe.
Als mir die Sprechstundenhilfe das Rezept gibt, frage ich sie, ob sie mir einen Optiker in der Gegend empfehlen kann.
„Nein, das tut mir leid. Wissen Sie, ich habe selber keine Brille. Ich kann ihnen da leider keinen Rat geben. Vielleicht zu Fielmann in der Innenstadt? Oder irgendeine andere von diesen Ketten. Da sind sie immer gut beraten… „
Gut, dass wir drei Monate lang auf diesen Termin gewartet haben. Vielleicht suche ich beim nächsten Mal einen Arzt, bei dem man schneller Termine kriegt.
Kann mir jemand von Euch vielleicht einen guten Optiker empfehlen in Leipzig? Wenigstens das?