Seit Lola klein ist, weiß ich um die 'erlernte Hilflosigkeit'. Dass Kinder, denen man Dinge abnimmt, die sie eigentlich alleine könnten, sich daran gewöhnen, von anderen Unterstützung zu bekommen. Diese einfordern und sich dadurch selber in ihrer Entwicklung behindern. Etwas, das ich natürlich unbedingt vermeiden wollte, seit ich zum ersten Mal davon hörte. Denn ich wollte, dass Lola so früh wie möglich selbstständig wird. Mein großes Idol war Pablo Pineda, der Spanier mit Abitur und Studienabschluss, trotz Down-Syndrom. Den seine Eltern und Erzieher schon früh in Situationen gebracht hatten, wo er sich selber helfen musste. Und der heute noch sagt, wie wichtig das für seine Entwicklung gewesen sei.
Doch was machte ich? Wann immer Lola nach mir schrie, weil sie Hilfe brauchte, sprang ich hinzu und unterstützte sie. Beim Treppen steigen - ich trug sie. Beim Schuhe binden - ich band sie zu. Beim Schultasche einpacken - ich packte sie für sie. Nicht zu reden vom selber Zimmer aufräumen, duschen oder einkaufen gehen. Es war und ist doch so viel schneller selbst gemacht, als lange mit ihr zu diskutieren. Ob sie das bitte machen kann (nein!) und zwar jetzt (Nein!) und zwar selber (NEIN!).
Bei Sabine Berndt, in einem ihrer LOVT-Seminare, hatte ich allerdings gelernt, dass es extrem wichtig sei, Lola nicht nachzugeben, wenn ich sie einmal aufgefordert hatte, etwas zu tun. Sondern wirklich darauf zu bestehen, dass sie es dann auch macht. Alleine.
Da die Machtkämpfe und Diskussionen aber oft so zermürbend waren, führte das dazu, dass ich sie überhaupt nicht mehr darum bat, etwas alleine zu machen. Sondern ihr es lieber gleich abnahm oder sie dabei unterstützte. So dass sie auch heute noch meine Hilfe beim Duschen braucht, noch nie alleine im Supermarkt war und auch noch nie alleine mit der Strassenbahn zur Schule gefahren ist. Obwohl sie all das, rein kognitiv, auch von der Orientierung her, sehr wohl schaffen würde. 'Nö, Du machen!', sagt sie dann im ruppigen Ton. Oder wahlweise 'Mit Dir, Mama, liebste Mama.' im säuselnden Ton. Und Mama macht.
Wenn andere mich darauf ansprechen, will ich es natürlich selber nicht sehen. Oder zugeben. "Sie kann es eben nicht alleine", sage ich dann. Aber tief in mir weiß ich, dass ich es bin, die den Machtkampf scheut. Und es ihr lieber abnehme. So dass sie viele Dinge eben immer noch nicht kann. 'Anerlernte Hilflosigkeit', sagt man wohl dazu. Und ich lebe damit.
Bis zum letzten Donnerstag. Da platzte mir der Kragen. Als wir gemeinsam am See lagen und sie unbedingt eine Pommes wollte. Aber nicht bereit war, sich alleine in die Pommes Schlange zu stellen. Nur gemeinsam mit mir wollte sie die kaufen, alleine wollte sie noch nicht einmal in der Schlange stehen bleiben bzw. mit der Schlange vorangehen. Sie blieb einfach an ihrem Platz stehen, in ein Selbstgespräch vertieft, mit einem ihrer imaginären Freunde.
Und wie ich sie da so stehen sah, in ihrer eigenen Welt, da legte sich plötzlich ein Schalter um bei mir. Als könnte ich sie auf einmal von außen sehen, ohne das liebende Mutterherz. Und ich war auf einmal richtig wütend, traurig und sauer zugleich, auf mich, auf sie, dass sie nicht einfach in der Schlange stehen bleiben kann.
"Nein, Lola, Du kaufst Deine Pommes heute alleine", sagte ich ihr. Und ging aus der Schlange raus, wo wir gerade noch zusammen gestanden hatten. Und sie brach in Wutgeheul aus. Mitten in der Menge der Anstehenden, und es war VIELE.
Welch einen Druck spürte ich. Wollte ich sie doch nicht bloßstellen. Und mich auch nicht. So ging ich vorsichtig wieder auf sie zu. "Lola, du bleibst jetzt einfach hier in der Schlange stehen. Ich geh da drüben hin und warte, und Du holst die Pommes. Geh einfach mit in der Schlange, wie in der Schule in der Mensa. Das kannst Du."
"Nein, Mama. Mit Dir", jammerte sie. Zum Glück schon leiser. Doch alleine in der Schlange stehen wollte sie auch nicht.
An jedem anderen Tag wäre ich dann doch in der Schlange bei ihr stehen geblieben. Aber an diesem Sonntag setzte ich es mir auf einmal in den Kopf, dass sie das doch können sollte. In der Schlange mitgehen und eine Pommes bestellen. Das war doch wirklich zu schaffen. Hatte sie das nicht schon als 5-jährige am Essensbuffett gemacht? Wie ich sie doch immer bemutterte und beschützte. Dass sie über die Jahre so hilflos und bedürftig geworden war, und sich selber im Weg stand.
Doch je mehr ich sie drängte, in der Schlange stehen zu bleiben, desto fester und wütender wurde sie. "Nein, Mama. Mit Dir", wiederholte sie und weinte und jammerte. Und klammerte sich an mir fest.
"Ich würde einfach nachgeben, und mit ihr gehen", sagte eine Frau, die neben uns in der Schlange stand.
"Aber dann habe ich die nächsten Wochen nur noch Probleme. Weil sie dann weiß, dass ich am Ende doch nachgebe", antwortete ich und dachte an die Worte von Sabine Berndt. Dass ich Lola nicht nachgeben darf, wenn ich einmal etwas von ihr 'verlangt' habe. Nämlich, alleine Pommes zu kaufen.
Hin und her gerissen stand ich in der Schlange. Neben mir die weinende Lola. Um mich Leute, die verstohlen nach uns blickten. Und deren Gedanken ich nur erraten konnte. Doch die Blicke setzten mich enorm unter Druck.
Nein, ich konnte ihr nicht nachgeben. Ich wollte auch nicht. Ich wollte und konnte sie nicht mehr so sehen, in ihrer erlernten Hilflosigkeit. Ich will, dass sie endlich lernt, die Dinge auch alleine zu machen. Sich etwas zutraut. Und erfährt, dass sie das, was sie will (Pommes) alleine kaufen kann. Ohne Hilfe. Oder eben gar nicht.
Doch Lola war schon zu verrannt in ihre Enttäuschung, ihren Wunsch nach Hilfe. Wütend und verzweifelt. Dass sie sich nicht überzeugen ließ. Und ich zu verrannt in meinen Wunsch, dass sie selbständiger und mutiger wird. Dass ich keinen Weg fand, gut auf sie einzugehen. Sie zu ermutigen. Sie in ihrem Gefühl anzunehmen und trotzdem Mut zuzusprechen.
"So Lola, ich gehe jetzt wieder zu unserem Platz am Strand. Wenn Du die Pommes nicht alleine abholen kannst, dann gibt es eben heute keine." Und ohne ein weiteres Wort ging ich aus der Schlange, zurück zu unserem Platz. Voller Schuldgefühl, unter den Blicken der anderen Leute. Und mit einer wild protestierenden Lola vor der Pommesbude. Mein Herz jagte, alles tobte in mir. Doch nachgeben konnte ich auch nicht mehr.
Und zu meinem Erstaunen kam mir Lola kurz darauf hinterher. Gar nicht mehr so aufgebracht, sondern viel ruhiger. "Will aber Pommes", maulte sie. Ich zuckte mit den Schultern. "Dann musst du sie selber kaufen, Lola. Dich einfach in die Schlange stellen und sie abholen. Ich weiß, dass du das kannst. Oder du isst eben keine Pommes."
"Du blöd", sagte sie sauer. Und schaute mich mit verweinten Augen an. Aber ich merkte, sie hatte verstanden.
Zu meinem Erstaunen zog sie sich recht zügig an, als ich meinte, dass wir jetzt nach Hause gehen. Schimpfte noch etwas rum. Und nahm auf einmal unsere große Badetasche mit den Handtüchern, die sie sonst nie tragen will. Hängte sie sich über die Schulter und stapfte los. "Ich mutig. Ich alleine Auto gehn, ohne Dich." Und weg war sie. Strammen Schrittes ging sie den Weg entlang, durch die Birken hindurch, mit der schweren Tasche über den Schultern. Und ich staunte. Irgendetwas hatte die Erfahrung am Pommes-Stand mit ihr gemacht.
Zu Hause angekommen, half sie mir bereitwillig, den Abendbrottisch zu decken. Und zu meinem allergrößten Erstaunen ging sie anschließend alleine ins Badezimmer, zog sich aus und duschte sich. Ohne meine Hilfe! Was sie noch nie bisher gemacht hat. Mit blitzenden Augen. "Ich kann das alleine", sagte sie, fast etwas trotzig.
Ein kleiner Schritt auf dem Weg zu mehr Selbständigkeit? Weil sie endlich mal die Erfahrung einer Grenze hat machen dürfen. Wo ich ihr nicht mehr helfe, auch wenn sie das vehement einfordert. Ein kleiner Meilenstein? Ich hoffe es so sehr.
Doch wie viel Kraft kostet es, ihr gegenüber konsequent zu sein. Wenn mir das früher jemand gesagt hätte...