Die Kerzen habe ich entzündet, drei Teelichte brennen. Die warme Tischdecke trägt einen Teller mit Lebkuchen, Spekulatius und geschnitzten Äpfeln. Die Kindern sitzen und kabbeln sich wie immer um den besten Platz. Greta hat Musik aus den 60er Jahren angemacht. Und erzählt von den vielen Arbeiten der letzten Woche und wie müde sie ist. Übertrumpft von Pavel, der behauptet, 10 Arbeiten in einer Woche geschrieben zu haben.
Neben mir liegen zwei alte Fotobücher, und zwei eingerollte großformatige Fotografien. "Und das?", fragt Lola. Und ich entrolle langsam das erste Bild. "Opa Jörg. Tot, leider", ruft Lola aus, als sie sein Grinsen auf dem sich entrollenden Fotopapier entdeckt.
"Ja, erinnerst du dich denn überhaupt an ihn?", frage ich neugierig. Denn als er starb, vor neun Jahren, war Lola gerade 4 Jahre alt. "Ja, klar", erwidert Lola eifrig. "Ich und Greta mit Opa lacht. In Küche sitzen mit Abuelo." Ach, ja, sie meint eines der Bilder, das wir neulich mal in einem der Fotoalben angeschaut haben, wo der Opa vom Wein errötet in einer spanischen Bar mit dem Abuelo sitzt und beide weinselig lachen. Und man Greta am Strand entlang rennen sieht.
Als er starb, konnte Lola noch nicht sprechen. Bis auf wenige Worte. Eines davon war M-pa, was soviel bedeutete wie 'Opa'. Nachdem er starb, lernte sie die Gebärde für tot. Mit dem Finger am Hals entlangfahren, als würde einem die Kehle durchgeschnitten. Etwas morbid. Und von da an war der Tod und der Himmel ganz eng mit dem Opa verknüpft. Der da oben auf seiner Wolke saß und auf sie hinunter blickte, so war sie sich sicher. Manchmal winkte sie hinauf.
In den ersten Jahren kurz nach seinem Tod haben wir viel über ihn gesprochen. Viele kleine Geschichten erzählt, die Kinder haben sich erinnert, an gemeinsame Erlebnisse, an das, was er typischerweise sagte. Dann wurden die Geschichten weniger, die Erinnerung blasser. Auch für mich, war er immer weiter weg. Obwohl ich zeitgleich ein Buch über ihn zu schreiben begann, über das Loch, das sein Tod in mein Leben gerissen hat und die unzähligen Fragen, die er aufgeworfen hat.
Ich schrieb und schrieb, doch in der Familie begannen wir über ihn zu schweigen. Es war keine Entscheidung, aber sein Bild verblasste und verschwand irgendwann. Ich weiß auch nicht recht, warum. Vielleicht weil ich mich so viel mit ihm und seiner Vergangenheit zu beschäftigen begann, mit der Leerstelle, die er hinterlassen hatte, dass ich seine Nähe nicht mehr als stärkend, sondern eher als schwächend empfand. Dass ich eine Zeitlang nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte.
Heute, beim gemeinsamen Vesper, war er auf einmal wieder da. Und mit ihm die Atmosphäre einer Zeit, die mir schon lange verloren gegangen ist. Eine Wärme und Innigkeit. Ein warmes Gefühl der Geborgenheit, das sich warm im Raum ausbreitete. Und die Kinder hörten meinen Erzählungen über den Opa zu. Über seine letzten Wochen. Seinen Lebensüberdruss. Seine Verzweiflung, die ihn am Ende zu seiner Entscheidung brachte. Von der ich den Kindern erzählte. Heute. Zum ersten Mal.
9 Jahre habe ich gebraucht. Ihnen davon zu erzählen, wie ihr Opa wirklich gestorben ist. Nicht am kranken Herzen, umgefallen, wie ich es bildlich immer ausgedrückt hatte. Nein, aus freien Stücken ist er aus dem Leben gegangen, hat es sich selbst 'genommen'. So erzähle ich. Und Pavel schaut fragend. Und Greta irritiert. Und ich erzähle davon, endlich.
"Das ist immer noch ein grosses Tabu, so ein Tod", sagt Greta nachdenklich und schüttelt unverständig den Kopf. "Wieso eigentlich?"
Warum ich so viele Jahre geschwiegen habe? Ich weiß es nicht. Es erschien mir unsagbar, diese Wahrheit einfach und ehrlich auszusprechen. Den Kindern davon zu erzählen, nachdem ich ihnen, damals so klein noch, die wahren Gründe zunächst nicht genannt hatte. Und sie wuchsen heran, doch ich fand nie den rechten Moment. Und begann, mich damit zu verstecken. Aus Schuldgefühlen, Scham, Reue. Ich weiß es nicht.
Die Last dieses Geheimnisses zu tragen, wurde irgendwann immer schwerer. Die Angst vor dem, was folgen könnte, wenn ich die Wahrheit sage. Schwerer als sein Tod selbst. Doch ich quälte mich weiter und trug es alleine, schützte die Kinder, vermeintlich. Bis heute. Bis ich es einfach gesagt habe.
Und so saßen wir endlich wieder gemeinsam zusammen. Verbunden mit dem Opa, meinem Vater, über den Raum und die Zeit hinweg. Und konnten uns die alten Geschichten und Erinnerungen erzählen. Und seine lebendige Wärme und Präsenz, seine Lebendigkeit und Begeisterungsfähigkeit, seine Neugierde auf das Leben, wieder spüren. All das, was ihn sein Leben lang ausgemacht hat. Wie schön.